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Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 5, S. 127

Text

POPPÉE: GRAPHOLOGIE.

darunter Shakespeare, welcher äussert:
»Zeigt mir die Handschrift einer Frau
und ich werde Euch ihren Charakter
sagen.«

Durch Michon wurde der Hauptsitz
der Graphologie nach Paris verlegt, durch
Langenbruch und speciell Professor Preyer
kam die streng wissenschaftliche Erörterung
und theilweise auch aus Übung der Psycho-
Graphologie nach Deutschland. Preyer
machte langjährige Versuche an jenen
Unglücklichen, welche ihrer Hände beraubt
und daher genöthigt waren, Feder oder
Bleistift an den Fuss oder an die Zunge,
Nase und andere Körpertheile zu befestigen
und so zu schreiben und überzeugte sich, dass
dies so Geschriebene, natürlich bis auf die an-
fängliche Unsicherheit, stets die frühere Hand-
schrift mit den ihr eigenen Gross- und Klein-
buchstaben und sonstigen anderen Zeichen
war. Preyer wiederholt es öfters; »Es
müssen gewisse Theile der Grosshirnrinde
sein, von welchen die motorischen Impulse
zur Bewegung der Federspitze ausgehen,
weil nach Verlust derselben überhaupt
jede Möglichkeit zu schreiben aufhört.
Diese Theile der Rinde bilden sich nur
durch Schreibunterricht aus, fehlen daher
den Mikrocephalen, welche nicht schreiben
lernen können, wie den Thieren.«

Der grosse Physiognomiker Lavater
schrieb an seinen Freund Goethe, als
dieser für Selbstschriften denkwürdiger
Männer eine Vorliebe gewann: »Je mehr
ich die Handschriften, die mir zu Gesicht
kommen, mit einander vergleiche, desto
mehr bestärkt sich in mir der Gedanke,
dass alle ebenso viele Ausdrücke oder
Ausflüsse des Charakters der Schreiber
genannt werden können, denn in den
Augenblicken, wo sie entstehen, sind sie
die Repräsentanten der Gedanken und
müssen daher den Zustand der Seele
dessen, der sie dem Papiere anvertraut,
wiedergeben.« In seinen »Physiogno-
mischen Fragmenten« sagt derselbe Ge-
lehrte: »Das einfachste Wort, das so
bald hingeschrieben ist, wie viele ver-
schieden angelegte Punkte enthält es!
Aus wie mancherlei Krümmungen ist
es zusammengebildet! Wird diese Ver-
schiedenheit der Handschriften nicht all-
gemein anerkannt? Setzt man es nicht
als selbstverständlich voraus, dass jeder

Mensch seine eigene, individuelle und
unnachahmbare, wenigstens selten und
schwer ganz nachahmbare Handschrift
habe? Und diese unleugbare Verschieden-
heit sollte keinen Grund in der wirk-
lichen Verschiedenheit der menschlichen
Charaktere haben? Man wird einwenden:
Eben derselbe Mensch, der doch nur einen
Charakter hat, schreibe oft so verschieden
wie möglich. Diese Verschiedenheit der
Schrift eines und desselben Menschen ist
kein Beweis wider die Bedeutsamkeit der
Handschrift, sondern vielmehr ein klarer
Beweis dafür. Denn eben aus dieser Ver-
schiedenheit erhellt, dass sich die Hand-
schrift des Menschen nach seiner jedes-
maligen Lage und Gemüthsverfassung
richtet. Derselbe Mensch wird mit der-
selben Tinte, derselben Feder, auf dem-
selben Papiere seiner Schrift einen anderen
Charakter geben, wenn er heftig zürnt
— und wenn er liebreich und brüderlich
tröstet. Wer will es leugnen, dass man
es nicht oft einer Schrift leicht ansehen
kann, ob sie mit Ruhe oder Unruhe ver-
fasst worden, ob sie einen langsamen
oder schnellen, ordentlichen oder un-
ordentlichen, festen oder schwankenden,
leichten oder schwerfälligen Verfasser
habe? Sind nicht überhaupt alle weib-
lichen Handschriften weiblicher, schwan-
kender als die männlichen? Alle Nationen
beinahe haben Nationalhandschriften, so
wie sie Nationalgesichter haben, davon
jedes was vom Charakter der Nation hat
und dennoch jeder von jedem so ver-
schieden ist! Wohl verstanden: Nicht der
ganze Charakter, nicht alle Charaktere,
aber von manchen Charakteren viel, von
einigen aber wenig, lässt sich aus der
blossen Handschrift erkennen.« Diese
Einschränkung Lavaters lässt die heutige
Graphologie nicht mehr gelten, sie be-
hauptet, dass sich mit Sicherheit aus
jeder Handschrift der ganze Charakter
des Schreibers erkennen lasse.

»Das Schreiben ist ein Vorgang, bei
welchem vom Gehirn aus verschiedene
Muskelgruppen in Bewegung gesetzt
werden. Das Gehirn commandiert die
Muskeln, und es ist das vom Gehirn
durch das Telegraphennetz der Nerven zu
den Muskeln strömende geistige Fluidum
in seiner individuellen Besonderheit, in

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 5, S. 127, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-03-01-05_n0127.html)