|
Graphologie! Der Name allein hat
schon zu vielen Missdeutungen Anlass
gegeben und dies mit Recht, er ist
auch nicht ganz richtig gewählt, denn
nicht die Lehre von der Technik der
Schrift, sondern deren Psychologie be-
sonders in Hinsicht auf die individuellen
Abweichungen, vertreten die geschulten
Graphologen. Der eigentliche Pfadfinder
und Verbreiter der Handschriftenkunde
war der französische Abbé, Jean Hypolite
Michon
1881, von dem auch der
Terminus Graphologie und der Ausspruch:
»C’est l’âme, qui écrit« stammt. Er selbst
lernte die Elemente derselben von dem
Jesuitenpater Flandrin, doch bald über-
traf der geniale Schüler seinen Meister
und erweiterte im Verein mit seinen
Freunden, dem Bischof Boudinet von
Amiens, dem Erzbischof Regnier von
Cambrai, die Regeln und Verbreitung
derselben; durch volle 35 Jahre widmete
er sich mit dem grössten Eifer seiner
neuen »chère science«, unternahm viele
Reisen nach der Schweiz, im Inneren
von Frankreich, hielt öffentliche Vorträge
und Séancen, liess sich weder von der
Gleichgiltigkeit, noch Misstrauen des
Publicums beirren, welches es nicht
glauben konnte, dass er aus der Schrift
die Eigenschaften der Schreiber erkenne,
bis es ihm wirklich gelang, sich eine
grosse Zahl von Anhängern und Schülern
zu verschaffen. Er gründete auch die
Société de Graphologie, die noch heute
weiterbesteht, deren Ehrenpräsident Alex.
Dumas fils war. Michon veröffentlichte
einige Werke, von denen die bekanntesten
»Système de Graphologie« und »Méthode
pratique de Graphologie« sind; sie ent-
halten wahre Fundgruben von grapho-
logischen Regeln, beweisen aber auch
wiederum, dass ihr Autor kein geschulter
Psychologe war, sondern ein eminenter
Menschenkenner mit besondern natürlichen
Anlagen und Intuition.
Seinen Nachfolgern, die ich später
nennen werde, war es erst vorbehalten, diese
|
angesammelten Schätze von langjährig
praktisch und theoretisch erprobten Regeln
wissenschaftlich zu sondieren und weiter
auszufeilen. Dass schon lange vor Michon
Personen waren, die aus der Form der
Schrift Schlüsse auf die Eigenschaften
des Schreibers zogen, beweist, dass im
Jahre 1622 von dem Bologneser Arzt und
Professor Camillo Baldo ein Buch in
lateinischer Sprache unter dem Titel
»Trattato come da una lettera missine
si conossano la nature e qualità del
scrittore« erschien. Es wurde ins Italienische
und Französische übersetzt, Fragmente
davon sind in der medicinischen Schule
in Montpellier, sie enthalten wohl scharf-
sinnige Beobachtungen aber kein eigent-
liches System. — Erst zu Beginn unseres
Jahrhunderts wird die Bewegung auf dem
graphologischen Gebiete eine lebhaftere,
ich erwähne nur die bekanntesten Namen,
welche sich um die Förderung der Hand-
schriftenkunde verdient gemacht haben,
unter anderen W. v. Humboldt, Grossman
Henje, besonders aber Lavater. Sein
tragischer Tod unterbrach die Vollendung
der »Physiognomischen Fragmente zur
Beförderung der Menschenkenntnis und
Menschenliebe«. Goethe selbst besass eine
grosse Handschriftensammlung und beur-
theilte thatsächlich die Menschen nach
den verschiedenen Formen ihrer Buch-
staben. Von ihm stammt auch der
so bekannt gewordene Ausspruch: »Es
unterliege keinem Zweifel, dass die Hand-
schrift Bezug auf Sinnesweise und Charakter
habe und man davon wenigstens eine
Ahnung von seiner Art zu sein und zu
handeln empfinden könne, sowie man ja
nicht allein Gestalt, Züge, sondern auch
Mienen, Ton, ja Bewegung des Körpers
bedeutend mit der ganzen Individualität
als übereinstimmend anerkennen muss.«
Der Deutsche ist es nun einmal ge-
wöhnt, dass, wenn er an eine neue Lehre
glauben soll, er erst das Urtheil seiner
Autoritäten darüber hören muss. Ich führe
Zeitmangels nur die bekanntesten an,
|