Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 6, S. 152

Burgtheater: »Fuhrmann Henschel« Hof-Operntheater: »Die Kriegsgefangene«. — Tschaikowsky (Ehrhart, Robert vonGraf, Dr. Max)

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Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 6, S. 152

Text

THEATER.

dass ihn die Verstorbene mit feindseligem
Geisterspuk verfolgt. Und hier setzt der
Dichter ein. Nicht nur, dass er uns die
inneren Vorgänge des Fuhrmanns zeigt,
er rechtfertigt sie äusserlich durch That-
sachen. Aus dem verschworenen Ehebunde
erwachsen dem Fuhrmann Zerwürfnis,
Schmerz und Unehre; sein Weib betrügt
ihn, seine Freunde missachten ihn, sein
Kind stirbt. Es umgeben ihn lauter
personifizierte Gewissensscrupel, die Ver-
geltung kommt von innen und aussen.
Da muss man sich erstaunt fragen,
was Hauptmann eigentlich will. Freilich
die einfachen Bewegungen in der Volks-
seele, die derbschlichte Form, in der sie
sich offenbaren, sind meisterlich beobachtet.
Der erste Act, gruppiert um ein armes,
sterbendes Weib, hat den grossen Zug
des allgemeinen Elends und übt eine
starke Wirkung. Man fühlt, dass es so
ist in den Hütten, wo die Gattin, die
Mutter stirbt. Auch der zweite Act, wo
der Fuhrmann die Magd heiratet, ist ein-
fach und glaubhaft. Dann aber wird das
Stück immer zufälliger und absonderlicher,
und damit immer banaler. Der Autor fühlt
das und sucht, was an innerer Kraft man-
gelt, durch die Erregung äusserer Sensa-
tionen zu ersetzen. Dadurch lässt er sich
immer mehr von der Hauptrichtung seines
künstlerischen Wesens abdrängen und ge-
langt schliesslich zu Effecten, die an
Thérèse Raquin und Risler erinnern. Die
Darstellung war eine rein äusserliche, glitt
über die tiefere Bedeutung der ersten Acte
hinweg und befasste sich eingehender nur
mit jenen Scenen, wo Fuhrmann Henschel
ein gewöhnliches Theaterstück ist, aus dem
sie noch überdies ein Bourgeoisstück machte.
Bei aller anerkennenswerten Technik, die
der Träger der Titelrolle entfaltete, er-
weckte doch die gründliche Verkennung
des Milieu, wofür freilich der Leiter eines
Kunstinstitutes hauptsächlich verantwort-
lich ist, einen unbehaglichen Eindruck.

R. v. E.


Die Première des Hofoperntheaters:
»Die Kriegsgefangene« von Carl Gold-
mark
bedeutet einen misslungenen Versuch
dieses Musikers, seine schwülstige und
unreine Phantasie zu disciplinieren. Seine
Stärke und seine Kraft liegen eben in den
unreinen Seiten seiner Natur: in der
schwülstigen Sinnlichkeit, in der asiatischen
Phantasie. In dieser Oper wird der
Versuch gemacht, an Stelle üppig weich-
licher Melodien ein einfaches Recitativ-
Pathos; an Stelle eines sinnlich aufge-
regten Orchesters ein beinahe klangleeres,
düsteres, lamentables; an Stelle heftig agie-
render, dramatischer Action innerliches
Leben zu setzen. Mit Energie und Zähig-
keit kämpft Goldmark in diesem Werke
gegen die stärksten Instincte seiner Natur,
jätet die kräftigsten Wurzeln seiner Phan-
tasie aus, um in diesem tragischesten aller
Kämpfe ehrenvoll zu unterliegen —
Im philharmonischen Concerte hat ein
symphonisches Bild von Tschaïkowsky
»1812« Schrecken erregt. Musik von gross-
artig schrankenloser Kraft, welche das
Orchester förmlich vom tiefsten Grund
aus aufwühlt. Wie Tolstoi der literarische
Repräsentant des russischen Reiches ist,
so ist Tschaïkowsky sein musikalischer
Repräsentant. In jenem symphonischen
Bilde wird die Geschichte seines Landes
zu Tönen, wie in dem B-dur Clavierconcerte
mit seinen wunderbaren elegischen Melo-
dien und Tanzweisen die Seele seines
Volkes, in seinem »Onegin«, die elegante,
leidenschaftliche, blasierte Welt seines Adels.
Schon in den wenigen Werken, welche ver-
einzelt in Wien aufgeführt worden sind,
fügt sich das geistige Bild eines modernen
Künstlers zusammen von grossartigem
Reichthume, leidenschaftlicher Energie,
tragischem Pathos und höchster Freiheit.
Überdies von stärkster repräsentativer
Kraft. Man erinnert sich mit Beschämung,
dass Tschaïkowsky vor einigen Jahren nach
Wien kam, ein Compositionconcert zu leiten
und noch vor dem Concerte wieder ab-
reiste, da er vollständig ignoriert wurde

m. g.


Herausgeber: Constantin Christomanos und Felix Rappaport. — Verantwortlicher Redacteur:
Constantin Christomanos.
K. k. Hoftheater-Druckerei, Wien, I., Wollzeile 17. (Verantwortlich A. Rimrich.)

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 6, S. 152, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-03-01-06_n0152.html)