Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 6, S. 150

Pointillismus Englische Kunst auf der Schulbank (Zuckerkandl, B.Loos, Adolf)

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Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 6, S. 150

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LOOS: ENGLISCHE KUNST AUF DER SCHULBANK.

Striches, wie sie eigenster Besitz der fran-
zösischen Schule waren.

Überhaupt wie sonderbar ist es, dass
viele Leute denken, die jetzige Kunst-
richtung sei plötzlich im Kopfe einiger
Künstler entstanden. Sie hänge gleichsam
in der Luft — sei eine Laune, eine Mode —
ein Widersprechen des bisher Geschaffenen.
Und doch kann man leicht nachweisen,
dass seit Claude Lorrain, seit Watteau,
ununterbrochen neben einer officiellen,
akademischen, schwerflüssigen, dunklen
Atelier-Malerei, sich eine der Natur zu-
gewandte, lichtsuchende, individuell stre-
bende Kunst entwickelte. Von Claude
Lorrain zu Constable — von Constable
zu Turner — von diesem zu Manet,
und von Manet zu Rysselberghe, ist die
gleichmässige Evolution des Impressionis-
mus zu verfolgen.

Ebenso kann man den Beobachter der
Strasse, den minutiösen Schilderer der
kleinen Leute, den Maler enger Horizonte
— kann man Raffaelli theils zu Chardin,
theils zu Moreau le Jeune zurückführen.
Wie diese plötzlich als neue Typen für
die Malerei den dritten Stand entdeckten,
so hat Raffaelli den vierten Stand zum

Gegenstand seiner Beobachtungen ge-
macht. Seine Bildchen werden einmal
interessante Charakteristiken zur socialen
Frage bilden. Die diesmal ausgestellten
Farbendrucke sind höchst reizvoll in ihrer
etwas kühl vornehmen Intimität.



Wir wollen nur noch flüchtig der
Aquarelle Grassets gedenken und können
nur mit leichtem Staunen die Frage nicht
unterdrücken, wie ein Künstler, der so schöne
kunstgewerbliche Muster schafft wie Walter
Crane, so schlechte Bilder malen kann.
Und gerade ihm verdanken die Künstler
unendlich viel. Er war ja einer der ersten,
der die Forderungen eines harmonischen
Milieu stellte. Auf ihm fussen in dieser
Hinsicht unsere Secessionisten. Wie haben
sie die Kunst der Stimmungen, die Kenntnis
der Inscenierung des »Encadrement« auf
eine bisher nirgends gekannte Höhe ge-
bracht. Durch diese ethisch so raffinierte
Ehrung der Werke, welche sie dem
Publicum vorführen — erziehen sich
unsere Künstler eine Elite von Kunst-
enthusiasten, deren Sensitivismus den
hohen Anforderungen der modernen Kunst
ebenbürtig sein wird.


ENGLISCHE KUNST AUF DER SCHULBANK.
Von ADOLF LOOS (Wien).

Schularbeiten englischer Gewerbe-
schüler sind gegenwärtig im Säulenhofe
des österreichischen Museums zu sehen.
Sie wirken deprimierend. Wie ein ver-
haltener Wehschrei geht es durch die Be-
sprechungen unserer Tagesblätter. Zwischen
den Zeilen ist es zu lesen: Hintergangen
habt ihr uns, unerhört betrogen. Jahr-
zehnte habt ihr uns von der unerreichten
Organisation unserer heimischen Kunst-
schulen vorgelogen. Ihr habt uns von den
grossen Erfolgen unserer Kunstgewerbe-
schule erzählt, habt uns erzählt, dass die
Wiener Kunstindustrie ohne Gleichen in
der Welt dasteht, habt uns erzählt, dass
unsere Nachbarn mit Neid auf unsere
Schulen blicken.

Ein kleines Lüftchen aus England,
und das mühsam aufgebaute Kartenhaus
ist zusammengefallen.

Mit dem System, das uns so sorgsam
von allen culturellen Bewegungen unserer
Nachbarn abzuschliessen wusste, wurde
gebrochen. Durch die Pensionierung des
Hauptvertreters dieser Richtung — über
welche die ganz merkwürdigen Freunde
unserer Cultur wahre Trauerhymnen an-
zustimmen wussten — wurde es ermöglicht,
dass Hofrath v. Scala uns mit diesen
Schularbeiten bekannt machen konnte.
Man denke nur, was geschehen wäre,
wenn Scala es unternommen hätte, diese
Sammlung in der Ära Storck vorzuführen.
Nicht rühren durfte er sich, ohne nicht gleich
das Gekläffe der gesammten reactionären
Pressmeute hinter sich zu haben.

Diese alten in England längst über-
holten Arbeiten wirken auf uns wie etwas
unerhört Neues. Denn in England ist der
Staat conservativ. Das gebürt ihm auch,

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 6, S. 150, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-03-01-06_n0150.html)