Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 6, S. 151

Englische Kunst auf der Schulbank Burgtheater: »Fuhrmann Henschel« (Loos, AdolfEhrhart, Robert von)

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Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 6, S. 151

Text

THEATER.

dazu ist er da. Wehe dem Lande, in
dem die Hofräthe die Revolutionen be-
sorgen müssen. Wehe dem Lande, in
dem die Regierung, der äussersten wirt-
schaftlichen Noth gehorchend, das Volk
gegen seinen Willen zu freien neuen Le-
bensanschauungen aufstacheln muss. Statt
geschoben zu werden und dem unaufhör-
lichen starken Drucke des nach freier
Bethätigung dürstenden Volkes zu weichen,
muss unsere Regierung ziehen, zerren,
aus dem stupiden Schlafe rütteln. Und
die Geweckten freuten sich nicht des Tages,
sie hatten nur keifenden Zorn, dass man
sie aus bequemer Ruhe aufscheuchte.

Heute hat man nicht mehr den Muth,
zu zetern und zu keifen. Ein grosses
Schämen geht durch unsere Publicistik.
Ein grosses Schämen — angesichts dieser
Schulbubenarbeiten. Schulbubenarbeiten,
die nach der Schulbank riechen, nach der
Schulbank, die von einem starken und
kampfesfrohen Vortrab der englischen
Gewerbebewegung bereits überwunden ist.
Denn was wir hier zu sehen bekommen,
das ist der englische Staat, the Govern-
ment
, das alte conservative England.

Und wir haben noch Jahrzehnte zu
arbeiten, bis wir die englische Schulbank
erreicht haben. Überspringen können wir
sie nicht, das ist wahr. Die englische
Gilde, die letzte Etappe des englischen
Kunstgewerbes, die das alte Handwerk
wieder zu Ehren gebracht hat und sich
Lehrbuben erziehen will — zum Unter-

schiede vom Staate, der noch auf die
Erziehung des Musterzeichners, des All-
around-man
beharrt, darf für uns noch
nicht gelten. Kein wirbelloses Thier konnte
auf seinem Wege zum Menschen den
Orang-Utang umgehen.

Sehen wir uns unser Pensum an, das
wir in den nächsten Jahrzehnten zu be-
wältigen haben werden. Da fällt uns vor
allem das Handwerksmässige, Gesunde
der Erfindung auf. Der Handwerker wurde
in England nicht so sehr verdrängt, wie
bei uns. Er wirkt noch. Weiters sehen
wir die Erziehung des Musterzeichners.
Eine Pflanze wird zuerst naturalistisch in
die Fläche gebracht, also gezeichnet und
dann auf verschiedene Techniken, als:
Spitzen, Tapeten, Stickerei, Keramik etc., an-
gewendet. Das ist uns neu. Bei uns machte
man das nämlich so: Ein Mann stilisierte
das ganze Pflanzenreich oder Thierreich
durch. Wofür? Ja, das wusste er selber
nicht. Man konnte sie ganz nach Wunsch
anwenden. Eisen, Holz, Papier und Seide.
Der Mann und sein Verleger machten
gewöhnlich ein gutes Geschäft. Der
Musterzeichner hatte dann nur für das
nöthige Pauspapier zu sorgen.

Schularbeiten englischer Kunstgewerbe-
schüler sind gegenwärtig im Öster-
reichischen Museum zu sehen. Sie wirken
deprimierend. Denn auf uns arme Zurück-
gebliebenen, Zurückgehaltenen wirken sie
wie Schöpfungen einer ersehnten Zukunft,
der wir erst entgegenstreben.


THEATER.

Burgtheater. Gerhart Hauptmanns
letztes Stück hat Enttäuschungen gebracht.
Schon in der Fabel liegt das Befremdende.
Fuhrmann Henschel verspricht seinem
todkranken Weibe, um ihren eifersüchtigen
Eigensinn zu befriedigen, er werde, wenn
sie stirbt, die Magd, die sie im Hause
haben, nicht heiraten. Und da das Weib
nun todt ist, er sich einsam fühlt, und es im
Geschäfte nicht zusammengeht, heiratet er
sie doch, an die sein Herz nie gedacht,
aus Bequemlichkeit, weil sie ihm am
nächsten zur Hand ist. Sie aber betrügt
ihn, quält ihn mit Bosheit und Gemein-

heit und verfeindet ihn mit allen seinen
Leuten, bis er endlich in dem Glauben,
dass er dies mit dem Treubruche an der
Verstorbenen selbst verschuldet habe, sich
erhenkt. Der grosse Blick, mit dem
Hauptmann sonst das gemeinsame Men-
schenlos, das Schicksal der Massen er-
fasst, wendet sich in »Fuhrmann Henschel«
dem Einzelnen, Zufälligen, Absonderlichen
zu. Ehrlich schwört der Fuhrmann den
Eid, den die Sterbende verlangt, und ehrlich
heiratet er die Magd, weil er es so für
das Beste hält. Dann kommt das Ge-
wissen mit seinen Qualen, und er glaubt,

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 6, S. 151, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-03-01-06_n0151.html)