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Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 9, S. 201

Text

VON DER ERLÖSUNG.
Aus dem Cyklus: »Vom Herbst«.
Von HERMANN ESSWEIN (München).

Es war in jener Stadt, die ich lieb
habe. In der alten Stadt meiner jungen
Jahre. Da war es an einem regnerischen,
späten Herbstnachmittage, dass ich wieder
den gläsernen Dolch im Herzen fühlte
Und ich gieng in den verlassenen, ent-
laubten Park und setzte mich auf eine
Bank. Der Regen weinte in den Büschen
und in dem aufgelockerten Sande der
Wege. Ich versank in den Anblick einer
orangerothen, spiegelnden Glaskugel und
sprach also zu mir selbst:

»Warum ich, gerade ich, ein Aus-
erwählter unter Zehntausenden? Die an-
deren leben, schaffen und wirken, und
die Zwecklosigkeit ihres Thuns schreckt
sie nicht. Sie bauen, pflanzen und ernten
und haben Weib und Kind. Sie schlafen
des Nachts und zittern nicht vor huschen-
den Schatten und fallenden Blättern. Sie
werden nicht krank vom Anblicke hoff-
nungslos sehender Mädchenaugen. Sie
lieben nur die gesunden und starken, sie
kennen nicht die sich selbst verzehrende
Liebe zu den Elenden. —

Und ich! Warum muss ich leiden
mit jedem welkenden Halm, weinen mit
jeder Abendröthe und klagen mit dem
hoffnungslosen Grau der dämmernden
Frühe. Warum mir das Weh um die
sterbende Schönheit? Ach, es steht ge-
schrieben: — Unstet und flüchtig sollst
Du sein auf Erden, darum, dass Du ge-
horcht hast, als das Sein klagte seine
Sehnsucht nach dem Nicht-Sein.« —

Und ich gieng traurig und das Herz
voller Thränen wieder der Stadt zu. Da
hub die Glocke des Thurmes an und sang
ihr irrsinniges Abendlied in den Regen
hinaus. Und meine Seele schrie laut auf.

Eisig fegt der Nordsturm durch die
Gassen, und alle Blüten zerflattern, alle
Blumenkränze fliegen in den Koth. Von
den lebensfrischen Wangen schmilzt die

Röthe der Gesundheit wie ekle Schminke,
die Glieder verlieren ihre Geschmeidigkeit,
die Augen stieren wie von Glas
Die Hölle pfeift und zischt Und
verruchte, klappernde Puppen tanzen nach
Rassel - Rhythmen ihren widernatürlichen
Cancan.

Aus tiefster Noth schrei ich zu DIR!

Ein Wirbeln und Knistern im Hirn,
dann sass ich auf einmal verhältnismässig
ruhig im Nebenzimmer eines Restaurants.
Es brannte kein Licht, aber im Gemach
lag eine bunte Dämmerung, denn eine
Wand aus vielfarbigen, kleinen Glas-
scheiben trennte es von dem Hauptlocal.
Diese Wand und eine Thür mit delicaten,
rosenrothen Vorhängen.

Ich war irr vor Leid und Müdigkeit
Tröstend, kindhaft, liebenswürdig,
engelrein und voller Unschuld sang
draussen eine Spieluhr durch den Lärm
der Gäste.

Louise kam und brachte mir ein Glas
Wein.

Das that mir wohl und ich lächelte.

Louise redete mit mir. Verständnisvoll
und zartfühlend, wie man mit Kranken
redet. Und sie bettete mein dorngekröntes
Haupt an die zarte, orangefarbene Seide
ihrer Taille, und mein Krampf brach sich
an der wohligen Wärme ihres Busens.

Dazu duftete sehr delicat der kleine
Veilchenstrauss in ihrem Gürtel. O welch
ein gut und köstlich Ding ist es um ein
vernünftig, dick Weib!

Mir ward zwei zu eins, und alle Farben
zu einem tiefen, seligen Nirvana, alle
Dissonanzen zu einem einzigen, erlösenden
Wohllaut

Pan Pan Vater, wie mild
leuchtete mir Deines Auges Stern, ein
Schreckstern den Schächern! Abend

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 9, S. 201, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-03-01-09_n0201.html)