Faksimile

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 10, S. 225

Text

GIFT.
Von PETER ALTENBERG (Wien).

»Warum trennst Du Dir diesen neuen
kleinen Stehkragen von der Blouse, Dodo?!«

Sie gab keinerlei Antwort.

»Ist er vielleicht bereits unbrauchbar?!«

Keinerlei Antwort.

Dieses Schweigen erregt das Nerven-
system eines Fragenden wie ein Gift, reizt
das ganze Gehirn, macht es momentan
empfindlich wie Kratzen oder Fieber die
Haut.

»Du, hörst Du?!«

Das junge Mädchen legte in Ruhe ein
Blättchen Papier hin. Die Mama las diese
Notiz aus einer englischen Zeitung:

»Frauenhals. Ihr geht jahrelang
unklug um mit Eurem kostbaren Besitze,
dem Halse, Damen! Lasset sofort alle
steifen Umhüllungen weg. Nur in äusser-
sten Freiheiten kann jedes Organ ge-
deihen und alles überhaupt und zu seinen
Schönheiten gelangen. Jeder Zwang er-
mordet irgend etwas. Das Mieder die
Brüste, der Kragen den Hals, die heutige
Ordnung die Seele. Alles wird schlaff durch
Einengung, elastisch jedoch durch Frei-sein!
Verbannet alle Leinenkragen, trennt die
steifen Dinge von Euren Blousen fort,
nehmet weiche seidene oder gehet bloss!
Vertädderlt Euren Hals nicht, lasset ihn
sich tapfer wehren gegen Kälte und Sturm.
Jeder Luftzug, jeder Sonnenstrahl bringt
Deinem Halse Schönheitskräfte, Mädchen!
Turnet! Turnen modelliert Deinen Hals.
Er sei schön in Ruhe, noch schöner sei
er in Bewegung! Ein Blähhals ist
fast ein moralisches Verbrechen

Ein Bouleversement entstand in der
Dame, wie wenn ein Dienstbote ein Ser-
vice zerschlagen hätte oder um eine Stunde
zu spät nach Hause gekommen wäre oder
Abzugbier gebracht hätte statt Lager.
Man möchte am liebsten kreischen, die
Zähne fletschen, kurz wie der Gorilla auf
den Feind losgehen mit gesträubtem
Haupthaare und herunterhängender beben-
der Unterlippe.

Die Dame sagte: »Man müsste direct
die Zeitungen vor Dir verstecken. Woher
hast Du dieses?«

Wie wenn man sagte: »Wo fandest
Du das Fläschchen Laugenessenz?!«

»Es lag in der Welt, wie alle Wahr-
heiten. Daher nahm ich es.«

»Du bist blödsinnig. Du, Dodo, bitte,
trenne den Kragen nicht ab, ja?!«

Keinerlei Antwort.

»Du, Dodo, trenne den Kragen nicht
ab. Ich dulde es nicht. Ich dulde es nicht,
Dodo. Ich dulde es einfach nicht.«

Wie wenn die Schweizer Lanziere
stünden, eine Erz-Mauer, todesbereit, war
des Mädchens Sinn.

Plötzlich lächelte sie über die Nichtig-
keit des Anlasses.

»Weshalb lachst Du?!«

Das junge Mädchen trennte den Kragen
los, schnitt ihn entzwei, liess ihn fallen.

Der Gorilla stöhnte innerlich, das Haupt-
haar sank.

Die Dame sagte sanft: »Dummes
Mädel — — —«

Das Mädchen nahm die Hand der
Mama, küsste sie und sagte:

»Du Mama, das verstehst Du nicht.
Ihr waret einstens von selbst vollkommen.
Nichts zerstörte Euch, rüttelte an Euch.
In Euren Stuben sasset Ihr, gedanken-
leicht und seelenleicht, mit Euren leichten
Mousselinekleidern und Euren komischen
Frisuren und Einer kam und nahm Euch
wegen nichts. Wir aber — — —«

»Also ich bin eine ganz Bornierte?!
Eine Unvollkommene?!«

Das junge Mädchen sanft: »Wir
aber müssen uns von uns aus ver-
vollkommnen

»Das verstehe ich nicht.«

»Heute kaufe ich mir kleine Hanteln
von ¼ Kilo Gewicht.«

»Du bist verrückt, Dodo. Hast Du
nicht drei Jahre lang bei Chimani ge-
turnt?!«

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 10, S. 225, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-03-01-10_n0225.html)