Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 11, S. 249

Wagnertage (Chamberlain, Houston Stewart)

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Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 11, S. 249

Text

WAGNERTAGE.
Von HOUSTON STEWART CHAMBERLAIN (Wien).

Betrachtet man die bisherige Lauf-
bahn Siegfried Wagners, so möchte man
glauben, Papa Shandy habe mit seiner
Marotte bezüglich der Taufnamen und ihres
Einflusses auf das ganze Leben recht ge-
habt. Man mag den Namen Siegfried
drehen und deuten wie man will, er stimmt
immer auf seinen Träger. In der Atmo-
sphäre des Sieges erwachte er zum Be-
wusstsein; von dem Waffengeklirr eines
Kampfes, der fast ein halbes Jahrhundert
getobt hatte, drang nur der ferne Wieder-
hall an sein Ohr, nur genug, damit der
Friede des schönen, festgemauerten väter-
lichen Heims mit Bewusstsein genossen
werde. Als er nun selber vor die Öffent-
lichkeit trat, zuerst im Jahre 1893 als
Concertdirigent, dann 1896 als musi-
kalischer Leiter der Aufführungen des
Nibelungenringes in Bayreuth, da erwachte
freilich mancherorten der alte Grimm von
neuem und nahm mit Vorliebe die be-
sonders verletzende Form eines Zweifels
an der technischen Competenz des Künst-
lers an. In Berlin wurde vor und nach dem
ersten dortigen Concert, am 29. December
1893
, dermassen gegen Wagner gehetzt,
dass man dem Orchester seinen schlechten
Willen anmerkte und dass selbst solche
Glanzleistungen wie die Ouvertüre zum
»Fliegenden Holländer« lange nicht die
Anerkennung ernteten, die sie verdienten;
das Publicum war förmlich eingeschüchtert.
Später, als Wagner den Ring in Bayreuth
dirigierte, erzeugte die Voreingenommen-
heit sehr komische Missgriffe und Manöver.
So schrieb z. B. der Correspondent von
der Londoner »Times« einen entrüsteten
Bericht, in welchem er den baldigen
völligen Niedergang der Bayreuther Fest-
spiele verkündete u. s. w. — — —. Doch
ein kleines Malheur war passiert. Dieser
Bericht über Wagners Leistung als Dirigent
erschien in der »Times« vom 8. August
1896
, und am 9. August begann der erste
Cyklus, den Siegfried Wagner in seinem

Leben geleitet hat! Das verdeckte Orchester
hatte dem Kritiker einen bösen Streich
gespielt; unwissend hatte er Felix Mottl
Unerfahrenheit, Unsicherheit, allgemeine
Unfähigkeit vorgeworfen! Inzwischen gieng
Siegfried Wagner seinen Weg ruhig weiter.
Wer ihn kennt, wird nicht behaupten
können, dass er die öffentliche Meinung
verachtete, nie aber liess er sich — selbst
nicht durch stärkste Provocation — aus
seiner friedfertigen, sonnigen Stimmung
aufreizen; es ist noch in frischer Er-
innerung, wie liebenswürdig und heiter er
zu der Arnold Mendelssohn-Controverse
Stellung nahm. Dieses eine Beispiel kann
für viele stehen. Wer aber die Bescheiden-
heit und Schlichtheit allein betont, hat
nur einen Theil des Charakters ergründet;
es liegt ausserdem etwas darin, was ich
als »Siegesgewissheit« bezeichnen möchte:
dieser Mann fühlt sich getragen, äusser-
lich durch seinen Namen, innerlich durch
den Besitz ungewöhnlicher Gaben. Er
ist ein echter Sieg-Fried.

Es kommt nun gar nicht darauf an,
das Unmögliche zu unternehmen und hier
und heute den Umfang dieser Begabung be-
stimmen zu wollen; selbst annähernd ist
das nicht möglich; genau so aber wie
der Geometer die Eigenschaften des
Kreises bestimmt ohne Rücksicht darauf,
ob es sich um einen grossen oder um
einen kleinen Kreis handelt, ebenso können
wir schon heute aus der Betrachtung
der bereits charakteristisch entwickelten
Persönlichkeit und aus der Betrachtung
ihres ersten, ebenfalls schon sehr charak-
teristisch gestalteten Bühnenwerkes das
Eine feststellen: ein hervorstechendes
Kennzeichen dieser Erscheinung ist ihre
Harmonie. Sie steht schon heute vor
uns als etwas Abgerundetes, Individuelles,
in sich Abgeschlossenes, gleichsam wie
ein Öltropfen im Wasserglase; nichts
darin strebt gewaltsam nach unerreich-
baren Höhen, keine Hände tasten fieberhaft

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 11, S. 249, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-03-01-11_n0249.html)