Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 11, S. 250

Wagnertage (Chamberlain, Houston Stewart)

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Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 11, S. 250

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CHAMBERLAIN: WAGNERTAGE.

nach neuen Eindrücken oder graben ruhe-
los nach vermeintlichen verborgenen
Schätzen; dieser Mann beherrscht sich
und bescheidet sich. In dieser scharf aus-
geprägten, vielleicht fast beispiellosen
Harmonie erblicke ich den Grund oder,
wenn man will, die Quelle sowohl zu der
Siegesstimmung wie zu der Friedens-
stimmung. Sie erzeugt vollendete Natür-
lichkeit, unbeirrbare Sicherheit, sie schenkt
dem schaffenden Geiste das, was Goethe
nicht müde wird, als eine seltene, be-
gehrenswerte Gabe zu betonen, nämlich
die instinctive, genaue Kenntnis der eigenen
Grenzen. Selbstbewusstsein ist hier kein
Gegensatz zu Bescheidenheit; die Be-
schränkung verschliesst dem Blicke nicht
die höchsten Ziele, sichert aber, dass in
dem Streben nach ihnen kein einziger
Hieb ins Wasser geführt wird. Das ist
für mich das Charakteristische an dieser
Persönlichkeit und das sind die Eigen-
schaften, die ich im »Bärenhäuter« als
grundlegend wiederfinde; sie genügen —
sobald eine hinreichend intensive Kraft des
Ausdruckes hinzukommt — um den eigen-
artigen, überraschenden Erfolg des Werkes
zu erklären und um die Dauer dieses Er-
folges zu verbürgen.

Die Einstimmigkeit des Urtheiles überall
— aber namentlich hier in Wien — ist
ein solches Phänomen, dass es wenig ein-
sichtsvoll wäre, wollte man achtlos daran
vorbeigehen. Es haben sich bei dieser
Gelegenheit Leute zusammengefunden,
die noch vor einem Jahre nie geträumt
hätten, gerade der Name Wagner dürfte
sie jemals zu einer Gemeinsamkeit der
Empfindungen vereinigen. Man hätte be-
fürchten können, der junge Wagehals
würde neuen Krieg entfachen; er hat im
Gegentheil Frieden und allgemeines Wohl-
wollen gestiftet. Wobei noch besonders
betont werden muss, dass Wien seinen Ruf
als kunstsinnige Stadt und als Stadt mit dem
Herzen auf dem rechten Fleck wieder
einmal glänzend bewährt hat. Eigenthüm-
lich und herzerfreuend ist es, zu sehen,
dass Wien zugleich als tonangebende
deutsche Stadt dem sogenannten »Reich«
die Richtung und die Tonart vorschreibt.
Wien war es, welches in dem Nicolai-
concert vom 19. Jänner 1896 den Ruf,
Wagners als Concertdirigent endgiltig

begründete. Die mattherzigen, vor lauter
Intelligenz verdämelten Berliner hatten
volle drei Jahre nicht herausfinden können,
ob der Mann Talent besitze oder nicht;
auch in Leipzig, München und anderen
Städten war man trotz des grossen Er-
folges vor lauter Kannegiesserei und phi-
liströser Bierbank-Ästhetik nie recht ins Klare
gekommen. In Wien hat eine Stunde —
was sage ich — es haben fünf Minuten ge-
nügt. Mochte mancher auch über diese
und jene Temponahme in Beethovens
F-dur-Symphonie den Kopf schütteln,
jeder empfand sofort, dass hier ein mei-
sterlicher Geist den Stab führe. Dann
kam der Mephisto-Walzer, der die Virtuosi-
tät bezeugte, und das Siegfried-Idyll, bei
dem kein Auge trocken blieb. Mit dem
»Bärenhäuter« ist es ähnlich ergangen.
Berlin hat sich gar nicht gerührt; in Mün-
chen haben Possart und Levi das Werk
gewaltsam durchgesetzt gegen den merk-
würdigsten »Dreibund« eines senilen baju-
varischen Bauernadels, einer bureaukrati-
schen, von Hofbräubier aufgedunsenen
Wagnerfresser-Partei und eines himmel-
stürmenden, kraftgenialen, zwischen raffi-
niertem Treibhaus und bestialischem
Tingel-Tangel hin- und herpendelnden
Künstlerthums; trotzdem war der Erfolg
gross, doch blieb das Wort »Bärenhäuter«
dort fast ebenso verpönt wie der Name
Dreyfus, da die anständigsten Menschen
bei diesem Thema mit Injurien und
Suppentellern herumzuwerfen begannen;
in Leipzig war die Begeisterung schon
viel allgemeiner und spontaner, doch be-
sitzt Herr Bliemchen nicht die nöthige
Kraft und Autorität, um das entscheidende
Wort zu sprechen; son opinion ne fait
pas loi
. Wien kam dieses Amt zu und
es hat seines Amtes königlich gewaltet.

Wenn ich vorhin von Einstimmigkeit
sprach, so möchte ich nicht missverstanden
werden. Das Werk wird hier wie ander-
wärts äusserst verschieden — dem Grade
nach — geschätzt; charakteristisch aber
und entscheidend ist die Thatsache, dass
es doch von jedem geschätzt wird. Ich
meine, es ist schon sehr viel, wenn alle
Menschen darin einig sind, ein Kunstwerk
»schön« zu nennen. Ich weiss, es gibt
Ästhetiker, welche die Behauptung auf-
gestellt haben, das Schöne sei das niedrigste

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 11, S. 250, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-03-01-11_n0250.html)