Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 11, S. 251

Wagnertage (Chamberlain, Houston Stewart)

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Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 11, S. 251

Text

CHAMBERLAIN: WAGNERTAGE.

Erzeugnis der Kunst, gewissermaßen die
unterste Sprosse an der Himmelsleiter;
doch auch mit diesen sonderbaren Heiligen
will ich heute nicht rechten, denn selbst
sie leugnen nicht, dass Siegfried Wagner
wenigstens diese unterste Stufe erklommen
hat. Um das vorhin gebrauchte Gleichnis
wieder anzuführen: über die Grösse des
Kreises kann man verschiedener Ansicht
sein, doch über seine grundlegenden Eigen-
schaften sind wir schon heute einig. Was
aber diese absolute Grösse anbelangt, so
möchte ich vorderhand grosse Reserve
empfehlen. Man sagt, dieses Werk sei
schlicht, sei kindlich rein und lauter, sei
melodiös, graciös u. s. w., und man hat
mit diesen Behauptungen recht. Doch
glaube ich, dass man bei dem Werke
genau so, wie bei seinem Schöpfer, mit
einem derartigen Urtheile nur die eine
Hälfte der Wahrheit aufgedeckt hat. Ich
gehöre zu denen, die dem Werke unbe-
mäntelte Sympathie entgegenbrachten,
denn ich kenne Wagner seit lange und
war überzeugt, er würde mit nichts her-
vortreten, das nicht vor seinem eigenen
Urtheile bestünde; ich wusste, dass dieses
Urtheil ein strenges und durch den aus-
schliesslichen Verkehr mit den Meister-
werken der Kunst geläutertes ist; ich war
also — ich gestehe es ganz offen —
ebensowohl durch die »reine Vernunft«,
wie durch den Drang des Herzens geneigt,
das Werk eher zu überschätzen als zu
unterschätzen. Und jetzt, wo ich es oft
gehört habe, muss ich doch bekennen:
ich habe es zuerst nicht nach Verdienst
geschätzt. Erst nach und nach komme
ich dahinter, wie tief, wie beziehungsreich,
wie bedeutungsvoll diese Wort-Tondichtung
ist, die mich im ersten Augenblicke doch
mehr in der Eigenschaft einer vollendet
liebenswürdigen Oper entzückte. Ist es
Unerfahrenheit des Autors oder sind es
die Eigenthümlichkeiten eines neuen, uns
noch nicht geläufigen Stiles, welche be-
wirken, dass gar viele Intentionen zunächst
wie hinter einem Vorhange halb verborgen
bleiben? Ich weiss es nicht. Doch wie es
mir ergieng, so wird es noch manchem
ergehen.

Gern würde ich den »Bärenhäuter« von
diesem Standpunkte des eigentlichen poeti-
schen Gehaltes, auch der poetischen Factur

aus (wenn ich so sagen darf) analysieren,
doch sind die meiner heutigen Plauderei
gesteckten Raumgrenzen bereits fast über-
schritten. Und so will ich mit einer Warnung
schliessen. Das Werk bietet für die Dar-
stellung nicht allein technische, sondern
auch grosse »poetische« Schwierigkeiten,
und wenngleich die Wiener Aufführung
eine glänzende ist, so ist sie doch nicht
geeignet, ein lückenloses Verständnis zu
vermitteln. Die Bewältigung des technischen
Theiles ist ihr vielleicht mehr gelungen
als die des poetischen. So zeugen z. B.
einige Striche für ein geradezu haarsträuben-
des Unverständnis des poetischen Gehaltes.
Ich will ja die Opportunität des Streichens
an und für sich nicht bestreiten, wenn-
gleich das Beispiel Münchens, wo der
»Bärenhäuter« ohne jeden Strich fortgesetzt
volle Häuser erzielt, ein gewichtiges
Zeugnis gegen ihre Nothwendigkeit abgibt;
doch müsste die Rücksicht auf den ver-
ständnisvollen Zusammenhang des Ganzen
das Grundprincip alles Kürzens sein; das
ist leider hier nicht der Fall. Der culmi-
nierende Punkt des ersten Actes z. B.,
derjenige, der ahnend in die Zukunft weist,
sind Hans Krafts Worte: Ach, wie fänd’
ich wohl je die Maid, die so mich liebt!
u. s. w. Sie sind entfallen. Dadurch wird
der ganze Schluss dieses Actes, in welchem
gerade diese Melodie immer wieder durch
den Teufelsspuk hindurchdringt, ton-
dichterisch sinnlos; und der culminierende
Punkt des 3. Actes, das Wiedererkennen
der beiden Liebenden: Ja, er ist’s u. s. w.!
verliert ebenfalls alle poetisch-musikalische
Bedeutung. In den ohnehin — in Bezug
auf Umfang — kleinen Rollen des Teufels
und des Peter Schliesser dürfte nicht ein
Wort gestrichen sein, denn diese zwei
symbolischen Gestalten sind die Träger
des ganzen Stückes; sie berühren ist das-
selbe, wie wenn ein Architekt, um sein
Gebäude niedriger als er geplant, zu halten,
anstatt im oberen Theile entsprechende
Änderungen vorzunehmen, die Stützpfeiler
nachträglich kürzen wollte. Eigenthümlich
ist ausserdem, dass die Striche in Wien
mit jeder Aufführung an Zahl zunehmen.
Unseren Kapellmeistern scheint es mit dem
Streichen ähnlich zu gehen wie den alten
Germanen mit dem Methhorn; sie rufen
beherzt: »Immer noch eins!« Vortrefflich

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 11, S. 251, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-03-01-11_n0251.html)