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Sie ein paar Verse, die wundersam die
Gesammtstimmung runden, brutal aus dem
Zusammenhang einer Dichtung heraus und
pflanzen Sie diese Verse zwischen Gänse-
füsschen als Citate auf! Werden sie
lächerlich wirken, diese Verse? Sie werden
lächerlich wirken, diese Verse, selbst wenn
ein Goethe sie geschrieben hätte! Schul-
beispiel:
»Wie weh wird mir, wie brennt
»Mein Eingeweide «
»Wie soll ich wissen, wie weh ihm
wird? Warum soll ihm das Eingeweide
nicht brennen?« — — so ungefähr würde
Nigerl glossieren. Malt er doch seine
Spottbajazzi selbst unter so herrliche Verse,
wie es die folgenden sind:
Einst war der Mensch Gesang,
Einst sprach der Mensch Gesang
Nun singen
Der trauernde Mond
Und die träumenden Bäume
Und die sehnenden Meere
Einsam für sich
Im übrigen aber lese man bei Lessing,
Goethe, Heine, Schopenhauer, J. J.
Rosseau u. a. nach, wie radical diese
Vielgelästerten über die scheinbar redlichen
Citierkniffe ihrer Kritikusse gedacht haben.
Und selbst, wenn die citierten Verse schlecht
wären, so schlecht und schmählich, wie
Nigerl vermeint — was läge daran? Muss
doch selbst er die »griechische Anmuth«
der Gesammtstimmung zugeben. Des
Künstlers Gestaltungstriebe aber drängen
stets zum Ganzen. Und wenn sich Nigerl
den Spass macht, auf Goethe zu ver-
weisen, »dessen Gedanken noch für einige
Dichterschulen hinreichen würden«, so
beweist er damit nur, dass er Goethe noch
nicht oder doch nur nigerlhaft studiert
hat. Denn just eben bei Goethe heisst
es: »Nur der Unkundige lässt bei Be-
trachtung eines Kunstwerkes das Ganze
unberührt oder wird dadurch verwirrt,
einzelne Theile aber ziehen ihn an oder
stossen ihn ab und am Ende bleibt er
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bei ganz kleinen Dingen stehen.
Kleine Widersprüche können bei einer
dadurch erreichten höheren Schönheit nicht
in Betracht kommen. Die deutschen Kritiker
aber haben nicht Freiheit und Kühnheit
genug, um darüber hinwegzukommen; sie
bedenken nicht, dass die Phantasie ihre
eigenen Gesetze hat, denen der Verstand
nicht beikommen kann.« Oder an anderer
Stelle: »Sie sind zugleich voller Eitelkeit,
und um sich von der kurzsichtigen Masse
als Köpfe bewundern zu lassen, haben sie
keine Scham und keine Scheu und nichts
ist ihnen heilig. Ihre Frechheiten können
sogar von der grössten Schädlichkeit sein,
indem sie die Menschen verwirren und ihnen
den nöthigen Halt nehmen.«
Was aber weiss Nigerl von den
Orphikern und von der tiefen Vergeistigung
und Verseelung, die aus all ihren Emana-
tionen, aus ihrer Lebensführung, ihren Ge-
beten, ihrem Pantheismus, ihren Mysterien,
Gesprächen, Hymnen wie Mondlicht hervor-
dämmert?? Um so vertrauter müssen ihm
die Orpheotelesten sein, deren Metier
es schon in den ersten Jahrhunderten ge-
wesen, das keusche orphische Wesen in
den gemeinen Schmutz des Alltags herab-
zuziehen, die Seligkeit feilzuhalten und
auf den gedankenlosen Glauben der grossen
Masse berufsmässig zu speculieren!
Jeder echte Dichter aber wird die
bornierte Überlegenheitspose der nicolaiti-
schen Nigerlinge als etwas Selbstverständ-
liches empfinden. Sie ist eine Naturnoth-
wendigkeit, die jedem Künstler gebürt.
Sie bestätigt ihm stets von neuem, dass
er auf rechter Fährte schreitet. Und während
die Überpfiffigen, die Zeilenkrämer, die
Spaltentänzer schwitzend nach neuen
»Witzen« suchen und faule Eier aus Hirn
und Busen holen, steigt er lautlos den
Felsgrat hinan und gönnt sich nicht ein-
mal die Mühe, den lästernden Herrschaften
da unten ein mephistofelisches Compli-
ment nach hinten zu machen.
A. L.
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