Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 9, S. 223

J. K. Huysmans Nigerlinge Miethke: Hans Schwaiger (Levetzow, Freiherr Carl vonLindner, AntonSchölermann, Wilh.)

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Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 9, S. 223

Text

RUNDSCHAU.

Schriften Huysmans’ in einen Band ver-
einigt wurden. »Ein Dilemma« ist die recht
alte Geschichte der armen Concubine, die
von den bösen erbenden Ascendenten des
verstorbenen Geliebten erbarmungslos an
die Luft gesetzt wird und in Elend an
einer Frühgeburt stirbt. »Tornister auf
dem Rücken«, eine meisterhafte Schilderung
des Spitallebens im Kriege 1870, die
aber ebensogut im Débâcle stehen könnte.
»Stromabwärts«, unter den dreien der
echteste Huysmans, zeigt die Leiden eines
versauerten, armen, alten Junggesellen, den
die kleinen Miseren des Lebens immer
mehr der Verstumpfung zutreiben. Vom
künstlerischen Standpunkte übrigens auch
nur ein Torso. Den grossen Huysmans
von »Là bas«, »A re bours«, »En route« etc.,
der auf die Generation, die vor einem Jahr-
zehnt ihre Hauptentwicklung durchlebte,
einen so starken Einfluss übte, sucht man
in dieser Publication vergebens.

C. v. L.

In der Galerie Miethke sind neben
einigen guten Blättern der Münchener
»Jugend« und einer Gruppe aus der »Ge-
sellschaft deutscher Aquarellisten« (darunter
auch Duttmann mit mehreren Arbeiten
ernsten Charakters, die für manches
Minderwertige entschädigen können, das
er uns in neuerer Zeit geboten) eine
Auswahl von Arbeiten Hans Schwaigers
ausgestellt. Dieser von einer mittelalter-
lichen, man möchte sagen »lanzknecht-
artigen« Überkraft erfüllte Künstler und
Mythendichter ist aller Zeiten, Trachten
und Stile Meister. Schwaiger lebt in den
mährischen Waldsümpfen, jenseits der
Sphäre unserer Compliciertheiten. Es ist
noch Unbedingtes in ihm. Dort wo die
Slovaken hausen, steht seine Malstube, ein
kleines Bretterhaus, darinnen es aussieht
wie in einem Laboratorium (einer »Dürr-
kräutlerei«, wie Hevesi in seinem treff-
lichen Aufsatz über Schwaiger sagt), voll
von Retorten, Herbarien, Flaschen und
slovakischen, an Urmenschenkunst mahnen-
den Holzschnitzereien. In diesem Milieu
wohnt und arbeitet Hans Schwaiger, wie
ein Nekromant. Selten sieht er sich die
Welt an, fährt nach Holland, Belgien oder
Italien, und liest auch viel in alten Folianten.
Dann kommen die Dinge zum Vorschein,
die so verschieden und überraschend sind,

wie die »Canterbury Tales« Geoffrey
Chancers, der Stiftaltar derer von Wiesner,
oder »Der ertappte Alraun«.

W. Sch.

Nigerlinge. Im Inseratenblatte un-
serer Residenz ärgert sich Nigerl über
»eine neue Publication des Herrn C.
Christomanos, die Orphischen
Lieder
«. Man kennt Herrn Nigerl. Man
weiss, dass er das Lachen lehren muss
und krampfhaft allsonntäglich auf seinem
Witzstühlchen zu hüpfen pflegt. So sieht
man ihn denn geflissentlich nach Witzig-
keiten auslugen und diese mit Hochdruck
zu Spaltenbrei zertreten. Oft fügt sich der
Stoff dem Witz, gar selten der Witz dem
Stoff. Einen Witz, einen Witz, einen
Dichtermord für einen Witz! Und wahr-
lich, ehe man sich’s versehen, ist auf
diesem gewöhnlichen Wege ein Mord-
versuch effectuiert, der manchmal auch
echte Künstler trifft. Denn der Witz à tout
prix
hat seit Saphirs Tagen kein Gewissen.
Bedenkt man aber, dass Nigerl die gefühl-
vollsten Essays über Badereisen, Tramway-
kutscher, Hochstapler oder Leibwäsche zu
schreiben weiss und unlängst erst mit
Mannesmuth für das Teppichausklopfen
plaidiert hat, dann wird man ihm füglich
das Recht einräumen müssen, auch über
Kunst zu judicieren. Denn nicht genug,
dass sich Polizeifeldwebel, Stadträthe und
Pfaffen herausnehmen, in artibus zu dis-
ponieren, heute richten selbst Reichstags-
abgeordnete über Kunst und Künstler,
verweigern Goethe ein Denkmal und
ruinieren ihm die Unsterblichkeit.

Kann uns aber die Taktik wundern,
die Nigerl annectiert, um »unfreiwillig aus-
strahlenden Humor«, »Geschwollenheit«,
»Sprachverrenkung« und weiss der Himmel
was aus den »Orphischen Liedern« ab-
zuleiten? O, wir kennen sie, diese Taktik!
Im Wandel der Strömungen und Kämpfe
blieb sie ewig die gleiche, weil ja
der ᾰμουσος ἀνήρ seit Jahrtausenden in
gleichem Tonfall sich zu ärgern pflegt.
Die Schliche, Kniffe, Striche, Verschwei-
gungen, Unterstreichungen sind stets die-
selben geblieben, selbst die Phraseologie
zeigt kaum einen Fortschritt. Eine Psycho-
logie des Nicolaismus gäbe schätzbare
Einblicke. Nur eine dieser technischen
Nuancen sei hier genannt. Bitte, reissen

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 9, S. 223, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-03-01-09_n0223.html)