Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 9, S. 222

Deutsches Volkstheater: »Orangenblüte«. — »Gretes Glück« J. K. Huysmans Burgtheater: »Paracelsus«. — »DieGefährtin«. — »Der grüne Kakadu« (Levetzow, Freiherr Carl von)

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Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 9, S. 222

Text

THEATER.

Burgtheater. Eine arge Verstimmung
hat sich des Burgtheaterpublicums be-
mächtigt. Seit mehr als einem Jahre ist
Herr Schlenther am Ruder und es ist
ihm nicht nur nicht gelungen, die ver-
derblichen Spuren des Regime Burck-
hards zu verwischen, sondern er ist sogar
bestrebt, in denselben Fusstapfen zu wan-
deln. Die Darstellungsweise in diesem
Theater ist auf ein so niedriges Kunst-
niveau gesunken, dass dem Zuschauer das
Urtheil über ein Stück ungemein erschwert
wird. Bisher galt der Grundsatz, einzig
die Aufführung könne über die Bühnen-
wirkung eines dramatischen Werkes Auf-
schluss geben. Jetzt kann man nur sagen,
jedes Stück, wenn es im Burgtheater ge-
spielt wird, verliert seine Wirksamkeit. So
ergieng es auch den Schnitzler’schen
drei Einactern: »Paracelsus«, »Die Ge-
fährtin
«, »Der grüne Kakadu«. Es sind
dies drei kleine Studien, keine vollendeten
Werke. Gelungene und misslungene Ver-
suche zu Grösserem. Skizzenhaft hätte die
Darstellung sein müssen, aber sie war wuchtig
wie bei ausgewachsenen, schweren Fünf-
actern. Das Publicum sollte in die Werk-
stätte eines Dichters geführt werden, der
an seinen Gestalten noch herummeisselt,
und die Schauspieler hätten den Schein
des Unfertigen wahren müssen. Der Leiter
eines Kunstinstitutes hat vor allem die Auf-
gabe, ein Werk in den richtigen Gesichts-
winkel für das Publicum zu rücken. Die
der Aufführung nachfolgenden Ausein-
andersetzungen der Kritiker können den

angerichteten Schaden nicht mehr gut-
machen. Der erste üble Eindruck, den
der Zuschauer empfangen, ist für ihn auf
lange hinaus ein bleibender. Das Burg-
theater in seiner jetzigen Verfassung ist
ein Höllenschlund, in welchem alles unter-
geht, was sich ihm nähert.

Deutsches Volkstheater. »Orangen-
blüte
,« Idyll in einem Act von Roberto
Bracco, hierauf: »Gretes Glück«, Schau-
spiel in drei Acten von Emil Marriot.
Zwei verdiente Durchfälle. Wir in Wien
haben es wahrlich nicht nöthig, Feuilleton-
Dramatiker, wie Herr Bracco einer ist,
zu importieren. Von diesen Gewächsen
haben wir selbst genug. Charakteristisch
für diese Species ist, dass, je ernster sie
sich geberdet, desto mehr Seichtigkeit
zum Vorschein kommt. Was die Roman-
schriftstellerin Marriot betrifft, so hat auch
sie, wie die meisten ihres Faches, kein
dramatisches Talent. Es mangelt die Con-
centrationskraft. Die Verbindung von Roman-
fragmenten wird in lächerlicher und un-
künstlerischer Weise bewerkstelligt. Die
seelischen Übergänge gehen in »Gretes
Glück« stets im Zwischenacte vor sich,
die auftretenden Personen präsentieren sich
sodann unvermittelt als ganz andere wie
früher, der moderne Zusammenhang fehlt.
Wahrlich, die Leute, die sich in unseren
Theatern von den Tagesmühen erholen
wollen, sind recht zu bedauern. Erst im
Sommer, wenn alle Wiener Theater ge-
schlossen sind, wird man wieder den An-
schluss an die Natur finden können.


RUNDSCHAU.

J. K. Huysmans. Ein Dilemma,
Tornister auf dem Rücken, Stromabwärts,
bei Schuster & Loeffler. — Huysmans ist bei
uns viel weniger allgemein bekannt als
sein schwedischer Doppelgänger Strind-

berg. Die vorliegende Übersetzung ist ein
verfehlter Versuch, ihn allgemeiner zu-
gänglich zu machen. — Verfehlt, weil
wie mit Absicht drei der wenigst charakte-
ristischen und auch wenigst bedeutenden

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 9, S. 222, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-03-01-09_n0222.html)