Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 9, S. 218

Kunst und Moral I. Der isolierte Charakter (Ruskin, JohnHartwig, Th.)

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Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 9, S. 218

Text

HARTWIG: DER ISOLIERTE CHARAKTER.

Mangel an Ganzheit und Einfachheit in
unserem modernen Leben. Ich meine In-
tegrität im lateinischen Sinne, Geschlossen-
heit. Alles ist auseinander gebrochen und
durcheinander geworfen, in unseren Lebens-
gewohnheiten wie in unseren Gedanken;
zum grösseren Theil auch unselbständig
und imitativ. Wir sind nicht nur nicht
im Stande, zu bestimmen, was ein Mann
eigentlich ist, sondern ob er überhaupt
ist
! Haben wir’s mit einem wirklichen
Geist oder nur mit einem Echo zu
thun? — Daher kommen jetzt auch die-
selben Ungereimtheiten zum Vorschein
zwischen dem Charakter verdienstvoller
Künstler und ihren Werken; dieselben
socialen Bedingungen haben einige von
den besten Kräften der Phantasie in
Literatur und Kunst getrübt, zerstückelt
und in irrige Bahnen hineingetrieben.
Ein- für allemal, lassen wir uns nicht
beirren, sondern daran festhalten: dass
alles Gute seinen Ursprung im Guten hat,

niemals im Bösen. Je älter wir werden,
je mehr wir fähig werden, Wahrhaftigkeit
im Leben anderer zu erkennen durch die
Wahrhaftigkeit unseres eigenen Lebens,
je deutlicher erkennen wir diese Wahr-
heit. Jede literarische oder malerische Er-
scheinung, welche in ihrer Art wirklich
schön ist — was immer ihr theilweiser
Irrthum oder verkehrtes Ziel sein mag —,
bringt damit den Beweis ihres edlen Ur-
sprungs. Wenn wirklicher Wert in dem
Dinge steckt, so war sein Ausgangspunkt
auch in einem echten Seelenkern gelegen.
Mag dabei auch noch so viel trübe Schale
sein und dunkle Verirrung, welche umso
seltsamer und erschreckender erscheinen
als die, welche wir an uns selber wahr-
nehmen können, weil sie einer Persön-
lichkeit anhaften, welche überwiegend
grösser ist, als unsere, und unserer Be-
urtheilung in ihrer Finsternis ebensoweit
entrückt, wie auf ihren Lichtpfaden, auf
denen wir ihr nicht nachkommen können.

(Schluss folgt.)


II.*
DER ISOLIERTE CHARAKTER.
(Zu Dostojewsky »Der Doppelgänger«).
Von TH. HARTWIG (Wien).

Hat man »Raskolnikow« (Schuld und
Sühne) gelesen, so glaubt man Dostojewsky
Genüge geleistet zu haben oder gar ihn zu
kennen. Eine Erscheinung wie Dostojewsky
wird aber durch ein Werk, selbst wenn
dasselbe als Hauptwerk angesehen werden
kann, keineswegs erledigt. Man muss die
Seiten- und Unterströmungen seines Wesens
kennen lernen, um die eruptive Gewalt
all des Absonderlichen beurtheilen zu
können, das selbst in dieser gereiften
Composition hervortritt. Andererseits ist
Dostojewsky eine so eigenartig slavische
Erscheinung, dass ein Fremder in den
verschiedensten Äusserungen nur geringe

Andeutungen findet, sein Schauen, Wollen
und Sagen zu begreifen. Seine Mittheilungen
sind so unvermittelt, unvorbereitet und ge-
räuschlos wie harmlose Äusserungen eines
Freundes, der nicht beabsichtigt, zu
posieren oder zu docieren. Das liegt in
seiner leichten, flüssigen, flüchtigen Schreib-
weise, deren Vorzüge und Fehler Brandes
richtig erkannt hat und derzufolge man
gegen Ende eines Romans (z. B. »Die
Besessenen« oder »Die Brüder Karamasow«)
stets noch etwas erwartet, so wie man
vom Leben noch etwas erwartet und über
den unerwartet plötzlichen Abfall desselben
erstaunt ist, wenn es zu Ende geht.

* Siehe »Wiener Rundschau« Bd. III. Nr. 9: »Der moderne Schicksalsroman«.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 9, S. 218, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-03-01-09_n0218.html)