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Paris, März 1899.
Das Leben eilt, die Existenzen ziehen
vorüber, und es bleibt ein Angedenken,
es bleiben Worte. Man denke nur an die
grossen Tage der Weltgeschichte; sie hatten
einen Morgen und einen Abend, und die
Nacht, die kam, glich allen anderen Nächten.
Die Existenzen müssen ihren Lauf nehmen,
die Berufe ausgeübt werden, die Körper
müssen sich aneinanderschliessen; unter
dem Volke der Staatsbürger ist das Volk
der Menschen ein fester Faden, auf
dem die Arabesken der Politik gewoben
werden, gewoben oder — mit Wasser-
farben gemalt, denn ein Gewitterregen,
ein sonniger Nachmittag geben in diesen
winzigen Zeichnungen, die Caricaturen
sind, den Ausschlag. Darum hat man in
der Ferne nur eine schwache Vorstellung,
wie wenig sich in einer Stadt ereignet,
aus der die Zeitungen zweier Welten die
sensationellsten Telegramme bringen. Ich
kreuzte vor kurzem längs der Quais fünf
bis sechs einherschlenkernde Pensionate,
junge Mädchen, die von den braven Kloster-
schwestern in die Champs Elysées geführt
werden, ich sah zarte schwarze Kleidchen
mit blauen, violetten, orangegelben oder
feuerrothen Bändern und lachende, obgleich
schon durch die äussere Welt beunruhigte
Augen. Der Wille zum Leben spottet
selbst des Todes; kürzlich, als man Herrn
Felix Faure begrub, schwebte in der Menge
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ein Duft von Liebe. Die jüngsten Ereignisse
haben das geistige Leben kaum mehr als
das physische gestört; doch gab es auch
hier ein leichtes Fieber. Die allzu inter-
essanten Zeitungen haben einige Stunden
gestohlen, die der Kunst und der Literatur
angehörten. Es erscheinen weniger Bücher
und jene, die erscheinen, werden weniger
gelesen und namentlich weniger besprochen.
Dies behaupten die Autoren, aber da das
Publicum sich schon lange nicht mehr für
das, was man ohne Ironie »die literarische
Kritik« nennt, interessiert, hat dies weder
grosse Bedeutung, noch grossen Einfluss
auf die Verbreitung der jüngsten Literatur.
Es gibt wirklich keine einzige Zeitung in
Paris, bei der man sicher ist, dass ein
neues Buch von augenscheinlichem lite-
rarischem Wert von einem unparteilichen,
mit dem Zeichen literarischer Autorität
gestempelten Richter kritisiert wird; diese
Gattung ist den abscheulichsten Schul-
füchsen, wenn nicht gar den schamlosesten
Krämern zum Opfer gefallen. Manchmal
springen die Chronisten der Mittelmässig-
keit der Berufskritiker bei; die Herren
Barrès, Faguet, Léon Daudet wagen es,
an manchen Tagen zum Thema einer
Plauderei das jüngst erschienene Buch zu
wählen, aber dies ist selten und namentlich
dem Zufall anheimgegeben. Zum Über-
fluss lieben alle Chronisten, die die Lite-
ratur bevorzugten, jetzt nur mehr die
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