Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 9, S. 204

Irradiation und Ausdehnungsvermögen der Seele (Strindberg, August)

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Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 9, S. 204

Text

IRRADIATION UND AUSDEHNUNGSVERMÖGEN DER SEELE.
Beobachtungen nach der Natur.
Von AUGUST STRINDBERG (Lund).*

»Ausser sich sein« und »sich sammeln«
sind zwei allgemein gangbare Wortwen-
dungen, die gut das Vermögen der Seele
ausdrücken, sich auszudehnen und sich
wieder zurückzuziehen.

Die Seele schrumpft zusammen vor
Furcht und schwillt auf vor Freude, Glück
oder Erfolg.

Steig allein hinein in einen vollbesetzten
Eisenbahnwagen. Keiner kennt den anderen,
alle sitzen still da. Alle empfinden ganz
nach dem Grad ihrer Empfindlichkeit ein
ungeheueres Unbehagen. Da geht eine
mannigfaltige Kreuzung verschiedenstim-
miger Irradiationen vor sich, die allge-
meine Beklemmung erzeugt. Es ist nicht
warm, aber man glaubt, man muss er-
sticken: die Sinne, die zum Übermass
mit magnetischem Fluida geladen sind,
fühlen ein Bedürfnis, zu explodieren; die
Intensität der Sröme, verstärkt von In-
fluenz
und Condensation, vielleicht
sogar von Induction, hat ihr Maximum
erreicht.

Da nimmt einer das Wort: Die Ent-
ladung hat stattgefunden, und die Neutra-
lisierung ist eingetreten, wenn alle sich
in ein Gespräch ohne Inhalt eingelassen
haben, um ein, kurz gesagt, physisches
Bedürfnis zu befriedigen.

Der Einsiedler zieht sich zurück in
seine Ecke, schliesst sein inneres Auge
und Ohr und vertieft sich in sich selbst,
um sich gegen eine neue Influenz zu
wehren.

Oder auch er betrachtet die Land-
schaft durch das Fenster und lässt seine
Gedanken umher irren, indem er
hinaustritt aus dem magischen Kreise
für ihn gleichgültiger Menschen, die zu-
sammen mit ihm eingeschlossen sind.

Das Geheimnis eines grossen Schau-
spielers liegt in seiner angeborenen Eigen-
schaft, seine Seele irradiieren, ausstrahlen
zu lassen, und dadurch in Verbindung
mit dem Publicum zu treten.

Es leuchtet, strahlt um den geistlichen
Redner in grossen Augenblicken, und sein
Antlitz verbreitet einen Schein, der sogar
sichtbar ist für die nicht Glaubenden.

Der Schauspieler mit träumerischer
Natur, der eine tiefe Intelligenz besitzt,
der viel studiert, aber nicht das Vermögen
bekommen hat, aus sich selbst heraus-
zugehen, wird sich niemals auf der Scene
geltend machen können. Eingeschlossen
in sich selbst, wird sein Gemüth nicht in
die Gemüther der Zuschauer hineindringen
können.

Bei den grossen Krisen im Leben,
wenn selbst das Dasein bedroht ist, er-
reicht die Seele transcendente Eigen-
schaften. Es erscheint, als ob die Furcht
vor dem Elend die gemarterte Seele dazu
treibt, fortzufliehen, um anderswo ein
Leben zu suchen, das leichter zu leben
ist, und es ist nicht um nichts, dass der
Selbstmord Anziehungskraft ausübt auf den
Unglücklichen durch das Versprechen, die
Pforten des Gefängnisses zu öffnen.

Folgendes ist mir passiert vor ver-
schiedenen Jahren:

Ich sass eines Herbstmorgens an
meinem Schreibtisch vor dem Fenster, das
nach einer düstern Strasse hinausgieng
in einer kleinen Industriestadt Mährens.

Im angrenzenden Zimmer, zu welchem
die Thür angelehnt war, ruhte meine
Frau in kränklichem Zustande, ihr Erst-
gebornes erwartend.

Indem ich schrieb, träumte ich mich
fort in eine Landschaft, die in einer Ent-

* Autorisierte Übersetzung aus dem Schwedischen von Elsbeth und Emil Schering.
Verlag von E. Pierson, Dresden. Erscheint im April 1899.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 9, S. 204, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-03-01-09_n0204.html)