Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 9, S. 202

Von der Erlösung Theodotus (Esswein, HermannOehler, August)

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Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 9, S. 202

Text

OEHLER: THEODOTUS.

und Traum Und Richard Dehmels
wundertiefe Strophe:

— und schon naht der Elefant,
Drauf der Buddha Ewigkeiten
Über uns’re Seelen spannt

Geh — sagte Louise, red’ doch kein
so absonderliches Zeug, ich fürcht’ mich
ja! —

Das, meine Seele war’s, was Dich
damals vom Herbst erlöste. Weisst noch,
wir haben den ganzen langen Winter daran
geknuspert, wie die heimlichen Korn-
mäuschen!

O, Du lachst ja schon wieder, Du mein
liebes, verrücktes Seelchen. Ja, freue Dich,
freue Dich

Draussen am Himmel kreisen jetzt die
grossen, gold’nen Sterne der Hoffnung!

Morgen Abend, morgen Abend
wann die Dämmerung kommt, da wird es
sein, wie ein munter bimmelndes Glöcklein-
spiel, selig und fein, wie Düfte von Ciga-
retten, wie Veilchen, wie gedämpfte Musik
aus fernen, lichten Sälen Schwankst
Du schon? Taumelst Du schon?
Wiegst Du Dich selig im Rhythmus der
Freien, o Seele?

Morgen Abend, wann die Dämmerung
kommt, da wird es sein. Da wird ein
kleines Dämchen zu uns kommen, tief
verschleiert, und wird mit pipsiger Christ-
kindelstimme also sprechen:

»Guten Abend, mein Herr! Ich weiss
zwar nicht, ob Sie mich noch kennen —«

»In der That, meine Verehrteste, ich
wüsste nicht «

Ein Silberglöckchen mit einem feinen,
feinen Sprung. Das Dämchen lacht:

»Ich komme, müssen Sie wissen, natür-
lich geraden Weges aus der Hölle! Der
Teufel hat den Thersites zu seinem Hof-
narren ernannt!«

»Das ist eine fulminante Neuigkeit,
was? Gestatten Sie übrigens, dass ich
mich Ihnen vorstelle: Ich bin Maria, die
Gekreuzigte. Von meinen Gläubigen ge-
nannt Sancta Virgo Meretrix oder Pans
Klage um des ewigen Seins endlose Qual,
wie mich einmal unser genialer Freund
Willy nannte. Du aber thust mir wohl
den Gefallen und nennst mich wieder wie
in alter Zeit Du!«

Du o, wie ich Dich
liebe Bleibe bei mir! Denn siehe,
es will Abend werden und der Tag hat
sich geneigt!


THEODOTUS.
Von AUGUST OEHLER (Wien).

Sapphos Leib war bleicher als Gras, das welket,
Und es besang Theokrit die Flur und die Hirten,
Plato liebte das stille Gespräch, der Geist des Homeros
Weilte im Streit und in der Helden Gefahren,
Und in eherner Rüstung erstrahlte Tydides.

Solche Namen zu nennen, erschien ich im Volke;
Und ich spielte die Flöte und zeigte der Glieder
Vielgepriesenen Reiz bei den Priestern der Götter,
Und meine Kunst, des Liedes festliche Gabe,
Ward die Zierde der heiligen Säulenhallen;
Mich zu hören, standen sie lange versammelt,
Und ich war lieb den Mädchen und lieb den Knaben.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 9, S. 202, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-03-01-09_n0202.html)