Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 9, S. 205

Irradiation und Ausdehnungsvermögen der Seele (Strindberg, August)

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Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 9, S. 205

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STRINDBERG: IRRADIATION UND AUSDEHNUNGSVERMÖGEN DER SEELE.

fernung von mehr als tausend Kilo-
metern nördlich lag und die ich wohl
kannte.

Während es Herbst war, und hier
unten nahezu Winter, befand ich mich
mitten im Sommer unter einer grünen
Eiche, von der Sonne beschienen; der
kleine Garten, den ich selbst bebaut hatte
in meiner Jugend, war dort; die Rosen —
ich konnte sie beim Namen nennen —
die Syringen, die Jasmine athmeten wahr-
nehmbar ihre besonderen Düfte aus; ich
las Raupen von meinen Kirschbäumen
ab, ich beschnitt die Johannisbeerbüsche
Plötzlich höre ich einen heiseren Schrei,
ich finde mich auf dem Fussboden stehen,
ein Krampf dreht schraubenförmig mein
Rückgrat um, und bewusstlos falle ich
nieder auf einen Stuhl mit einem uner-
träglichen Schmerz im Rücken.

Ich erwache zum Bewusstsein und es
wird mir klar, dass meine Frau von hinten
gekommen war, um guten Morgen zu sagen
und ganz leise ihre Hand auf meine Achsel
gelegt hatte.

»Wo bin ich?«

Das war meine erste Frage, und ich
sprach sie aus in der Sprache meiner
Heimat, welche meine Frau als Auslän-
derin nicht verstand.

Der Eindruck, den ich von diesem
Vorfall bewahrte, war der, dass mein
Gemüth sich ausgedehnt und den Körper
verlassen hatte, ohne die Verbindung der
unsichtbaren Fäden abzubrechen, und ich
bedurfte einer gewissen, wenn auch noch
so kleinen Zeit, um mich einigermassen
zu erinnern, dass ich mich bewusst und
unversehrt in dem Zimmer aufhielt, wo
ich soeben sass und arbeitete.

Wenn gemäss der alten Erklärungs-
weisen meine Seele in sich selbst ver-
sunken gewesen und noch in den Grenzen
des Körpers geblieben wäre, hätte sie
sich mit grösster Leichtigkeit und Schnel-
ligkeit wieder entfalten können, und ich
würde nie in so hohem Grade gemartert
worden sein durch dies Gefühl der Über-
raschung während meiner Abwesenheit.

Nein, ich war abwesend (från-
varande) — das ist das schwedische Wort
für distrahiert — und die Rückkehr meiner
Seele gieng auf so plötzliche Weise vor
sich, dass ich dadurch litt. Aber die

Schmerzen liessen sich in der Rücken-
gegend merken und durchaus nicht in
den Gehirnhemisphären: etwas, das mich
an die überwiegende Rolle erinnert, die
man dem plexus solaris zulegte, als ich
zum Arzt studierte in meiner Jugend.

Ein arideres Abenteuer, das mir vor
drei Jahren in Berlin passierte, macht
für mich einen Beweis aus, dass die
Exteriorisation oder Versetzung einer
Seele unter ausserordentlichen Umständen
stattfinden kann.

Nach erschütternden Krisen, Kummer
und unregelmässigem Leben sitze ich
eines Nachts zwischen eins und halb zwei
bei einem Weinhändler zwischen Glas
und Wand an einem Tische, der jeder-
zeit für meine Coterie in Bereitschaft
stand. Man hatte gesessen und getrunken
seit sechs Uhr, und ich hatte die ganze
Zeit so gut wie allein das Gespräch
führen müssen. Die Frage war für mich,
einen verständigen Rath einem jungen
Officier zu geben, der im Begriff stand,
die militärische Laufbahn gegen die des
Künstlers zu vertauschen. Da er sich zu
gleicher Zeit in ein junges Mädchen ver-
liebt hatte, befand er sich in einem
äusserst überspannten Zustand, und nach-
dem er im Laufe des Tages einen Brief
mit Vorwürfen von seinem Vater erhalten
hatte, war er geradezu ausser sich. Ich
vergass meine eigenen Wunden, während
ich die eines andern pflegte, und hatte
eine schwere Arbeit, unter der mein
Gemüth infolge einer Reflexbewegung er-
hitzt wurde, und nach Beweisführungen
und Berufungen ins Unendliche wollte
ich in seiner Erinnerung ein vergangenes
Begebnis aufrufen, das auf seinen Ent-
schluss einwirken konnte.

Er hatte den fraglichen Auftritt ver-
gessen, und um sein Gedächtnis zu unter-
stützen, fange ich an, es ihm zu schildern:

»Sie erinnern sich wohl jenes Abends
in der Augustiner Kneipe «

Und ich fahre fort, den Tisch zu be-
zeichnen, wo wir unser Couvert verzehrt
hatten, beschrieb, wie der Schenktisch
placiert war, die Thür, durch die man
hinein kann, die Möbel, die Bilder

Auf einmal schwieg ich hatte
halb das Bewusstsein verloren, ohne ohn-
mächtig zu sein, und sass noch auf dem

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 9, S. 205, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-03-01-09_n0205.html)