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Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 9, S. 219

Text

HARTWIG: DER ISOLIERTE CHARAKTER.

Dostojewsky schreibt auch, wie man zu-
meist lebt, rasch, ohne zurückzuschauen,
ohne vorherzubeschliessen. Die Gegenwart
ist ihm das allein Lebendige und so schafft
er eine Reihe glänzender Situationen, die
alle einzeln genommen lebendig, gegen-
wärtig, packend sind. Umso auffallender
ist es, dass er einen seiner Romane einer
Neubearbeitung unterzogen, um einen be-
stimmten, vereinzelten Charaktertypus dar-
zustellen, wie es etwa Gogol in den »Todten
Seelen« gelungen ist — genug Ursache,
hier einen Anhaltspunkt zu suchen.

Der Roman ist »Der Doppelgänger«,
die Hauptgestalt erscheint mir als Typus
eines in allen Romanen Dostojewskys mit
grösserer oder geringerer Deutlichkeit auf-
strebenden Charakters, den ich mit dem
Ausdrucke: »Der isolierte Charakter« prä-
cisieren möchte.

Die Einzelheiten eines Kunstwerkes
lassen neben der deutlichen Absicht des
Schaffenden, wie sie in jeder Wendung
der Rede, in dem Gebrauch der Bilder
sich ausdrückt, seine Weltbetrachtung, die
Richtung und Umfang seines Geistes be-
zeichnet, nur ahnen. Diese bleibt für den
Dichter, wie eigenwillig und spontan er
auch seine Absicht documentieren mag,
eine »hinter der Wahrheit« wirkende Kraft.
Sie äussert sich in der Mittheilungsform
des Schaffenden, denn die Wahl des
Details, die Verwendung des Materials,
das Künstliche der Annahmen, die Kunst
der Darstellung, der ganze Apparat seiner
scheinbaren Überlegung ist mehr oder
weniger unbeabsichtigte Eigenart seiner
Technik.

Hat der Held der Dichtung selbst den
Blick für jene Kräfte, die sein Geschick
gestalten, hat er das Bewusstsein für jene
Geheimnisse, die hinter der Alltäglichkeit
verborgen sind, hat so der Künstler sein
Welterfahren und -verstehen in die Selbst-
erkenntnis der Hauptperson gelegt, dann
sprechen alle Details mit, sprechen eine
Sprache — die Kunst Tolstois.

Bleibt der Dichter mit seiner An-
schauung, seinem Weltempfinden und
-bewusstsein über den Personen, dann
dringt seine Meinung durch all das triviale
Geschehen und gemeine Reden wie ein
»Gesang der Geister über den Wassern«
— Dostojewskys Art.

Tolstoi, klar, scharf, analysierend, be-
darf deutlicher Gestalten, deren Selbst-
bewusstsein im Trug unserer imperativen
Gedankenrichtung sich bewegt, bis sie Halt
machen vor dem Ernst des Lebens, den
die Flüchtigkeit unseres wachen Denkens
vergessen liess — wir sind erkannt und
betroffen.

Dostojewsky, tief, geheimnisvoll, medi-
tierend, zeichnet die Menschen, wie sie
träumend an dem Leben vorübergehen;
sie taumeln auf, wie aus dem Schatten
der Abenddämmerung, und enthüllen das
Grauen des Lebens, das der Leichtsinn
unseres wachen Empfindens von sich ge-
wiesen — wir sind bestürzt. Das scheue
Nachtempfinden, das mit des Tages Schein
erbleicht, erscheint der wachen Seele wie
trübe Ahnung.

Der Titularrath Goljadkin erwacht aus
wirrem Traum. Noch sieht er ungewiss
umher, ob ihn Wirklichkeit umgibt, die
ihn, den Träumer, wie ein Traum narrt,
das Leben, das unerbittlich in den Con-
sequenzen jeder Handlung, von seinem
trägen Körper active Lebendigkeit fordert.
Und er schliesst seine Augen, um sich
seinen wirren Träumen wiederzugeben, die
spielend sein Schicksal gestalten und seine
thätige Seele von den hemmenden Ge-
wohnheiten seines trägen Körpers, von
den drückenden Eigenheiten seines un-
fähigen Geistes befreien. Er fürchtet, dass
in seinem dumpfen Dasein etwas nicht in
Ordnung wäre, dass etwas geschehen,
eintreten könne, was jede noch so wohl
vorbereitete Fassung vernichte. Jeder
Schritt im Leben will gethan, jedes Wort
in Gesellschaft gesagt sein, der phan-
tastische Wunsch benöthigt die Energie
der Ausführung, die vorbaut, fasst und
hält, trotz Blödigkeit und Unbehagen.
Wenn er das doch vermöchte, sich an-
eignen könnte. Vergebens. Erbittert durch
die Arbeit, die ihn nicht fördert, erregt
durch die Vorstellungen seiner Einbildungs-
kraft, die, ohne Zusammenhang mit seinem
Jetzt, ihm eine Zukunft malen, die er
wohl nie erreichen kann, sieht er andere
bereits geniessen. Wohl besitzen jene Be-
ständigkeit des Charakters, starres Fest-
halten an einem Entschluss, geschmeidiges

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 9, S. 219, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-03-01-09_n0219.html)