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Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 9, S. 220

Text

HARTWIG: DER ISOLIERTE CHARAKTER.

Benehmen, Gesellschaftlichkeit, Gewandt-
heit im Verkehr, alle diese Eigenschaften
aber besitzt auch er im Übermass — als
Vorsatz in seinen Gedanken. Doch wie
er sich erproben will, wird er wankel-
müthig, tölpelhaft, sein zornigstes Be-
gehren wird flehende Nachgiebigkeit, er
stottert unverständliche Worte, die wie
Andeutungen klingen und beleidigen. Ein-
sam, wie er gelebt, hat er es verlernt,
die Sprache der anderen zu gebrauchen
und zu verstehen. Er ist ein anderes
Wesen geworden, ein Wesen, das mit
seinen Gedanken im Kreise geht, mit
seiner Phantasie stets wollte und wünschte
und möchte, mit grossen Zielen und der
Überzeugung, ein grosses Ich werden zu
können, welches will und vermag
Doch diesem Ich steht ein unscheinbares
Männchen zur Verfügung, welches sich
nicht zu bewegen versteht, ein zweifel-
haftes, charakterloses Etwas, das geduldig
auf eine Eingebung, eine Erleuchtung
seines passiven, unfähigen Verstandes
wartet, der das handelnde Ich zu führen hat.

Dieser wartende Phantast wittert
überall Gefahren. Das fröhliche Lachen
eines Unbekannten ist für ihn ein
höhnender Vorwurf. Die üble Laune
seines Vorgesetzten erschüttert ihn: »Was
mag ich gethan haben?« — Seine
Seele ist voll Unruhe, als lebte er unter
der Last einer grossen Schuld oder täg-
licher ungesetzlicher Vergehen. Es ist, als
hätten sich alle gegen ihn verschworen,
ihn zu quälen, zu kränken, zu beseitigen —
ihr Entgegenkommen ist List, ihre Höf-
lichkeit grausamer Hohn, ihre kühlen
Mienen decken gleich undurchdringlichen
Masken ihr Empfinden, so sind ihm ihre
Persönlichkeiten unverständlich und fremd.
Unter ihnen ist er ein krankes Wesen,
das mit unzureichenden Mitteln in die
Welt gesetzt wurde. Stolz wollte er sich
freier und wahrer fühlen als die andern,
müsste er nicht weinen, dass er so wenig
vor ihnen sich zu verbergen vermag? Er
möchte vom Weh seiner unverstandenen
Natur dem Freunde der Strasse klagen, und
Mitleid suchen bei all den vielen, die
wie Schatten vorüberziehen, empfindungs-
los und unnahbar. Doch er selbst ist
ihnen ein Schatten, wesenlos, ein Nichts.
Noch hofft er Trost. Hat er unter allen

kein zweites Ich gefunden, so sucht er
nun eifriger und sehnender jene Schlum-
mernde zweite Natur in sich, die seine
Phantasie erträumte. Ist er denn nur die
armselige, untergeordnete Creatur ohne
Lebensfreude, ohne Erbitterung? Ist er nur
ein an der Strasse des Lebens kauernder
Bettler, der ein Almosen vom Schicksal
erwartet? — Ist nicht etwas in ihm, das
stark und kalt seine Rechte fordert, wenn
der richtige Augenblick naht? Der Augen-
blick, in dem sein trübes Dasein ein
Leben, der Bettler auf den Königsthron
gesetzt wird. Nun noch ein Narr, wird er
ein Herr sein. — — —

Der Titularrath Goljadkin erwacht aus
wirren Träumen. Noch fühlt er sich be-
haglich, da die ihn umgebende Wirk-
lichkeit das gewohnte Aussehen trägt.
Und doch, »es wäre ein Streich, wenn
etwas nicht in Ordnung wäre«. Es bliebe
alles in Ordnung, wenn nicht Goljadkin
selbst es liebte, sich in Gefahr zu be-
geben. Er sucht ohne Veranlassung einen
Arzt auf, indem er, ohne eine Krankheit
als Ursache ersinnen zu wollen, sich ein-
redet, »derselbe werde schon einsehen,
dass es so sein musste«. Er überwindet
die Verwunderung des Doctors, indem er
mit einer Tirade seiner trivialen Lebens-
ansichten beginnt, die weniger seinen un-
willigen Zuhörer als ihn selbst so sehr
ergreift, dass er nicht anders kann, als in
einer unerwarteten Pause über sein un-
verstandenes, ihm selbst unverständliches
Weh in nervöser Erregung zu weinen.
Nichtsdestoweniger entfernt er sich mit
der angenehmen Empfindung, sich end-
lich einmal mitgetheilt und ausgesprochen
zu haben. Er ahnt nicht, dass sein selt-
sames Gebaren, indem er die gebräuch-
lichsten logischen Voraussetzungen des
gesellschaftlichen Umganges verletzt, den
Arzt veranlassen wird, ihn fernerhin zu
beobachten. Wie sollte sein Benehmen
ihm selbst auch seltsam erscheinen, da
er einsam von seinem Leben träumt. Er
verachtet die Vorbereitungen der andern
für den gesellschaftlichen Verkehr, dieser
aber bleibt die Sehnsucht seiner späten
Jugend. Und er sucht die Gesellschaft
auf, wo er Berechtigung dazu empfindet,
wie bei Staatsrath Olsuph Berendejen,
der ihn einst ins Amt gebracht. Wird er

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 9, S. 220, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-03-01-09_n0220.html)