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Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 9, S. 221

Text

HARTWIG: DER ISOLIERTE CHARAKTER.

auch an der Thüre abgewiesen — es ist
das Geburtsfest der Tochter des Hauses —,
so gelangt er von einer Hintertreppe aus,
nachdem er drei Stunden in der Kälte
gewartet oder vielmehr gelauert, in den
Salon. Ja, er ist consequent in seinen
Entschlüssen, solange er allein bleibt;
kaum aber sieht er sich inmitten der
frohen Menge, da sind seine Augen wie
verschleiert, sein Bewusstsein wie um-
nebelt, es schwindelt ihn ob seiner Kühn-
heit, überall stösst er an mit Worten
und Bewegungen, bis er aus der Gesell-
schaft hinausgejagt wird.

Es ist Nacht geworden, es stürmt und
schneit. Man sieht die Welt kaum zwei
Schritte weit, so wie er sonst wohl sein
Leben betrachtet, kaum zwei Schritte weit.
Da fühlt er, nachdem man ihn verstossen,
undeutlich die Qual seiner Einsamkeit.
Ungekannt und unverstanden, kennt und
versteht auch er niemanden.

Ach er ist ein Überflüssiger. — So
überflüssig, als wenn schon einer da wäre,
ihm ähnlich, ihm gleich — vielleicht er
selbst, ein Doppelgänger, der das handelnde
Ich besitzt, das seine Phantasie erträumt,
und das sein armer Verstand nicht be-
meistert.

Schmerzliche Ahnung, ungewiss und
dennoch ätzend wie das Gift einer schreck-
lichen Wirklichkeit. Eine begriffslose Furcht
erfasst seine Gedanken, die grauenhafte
Vorstellung eines Doppelgängers durch-
dringt seine Sinne, das Hirn krampft sich
ihm zusammen im Delirium der marternden
Ahnung — — — — Da sieht er einen
flatternden Mantel vor sich, immer vor
sich; athemlos stürtzt er nach, die Gestalt,
so einsam wie er im tosenden Sturm, sie
hat den gleichen Weg, sie eilt ihm voraus,
in die bekannte Strasse, klopft an das
bekannte Thor, fliegt die Stiege empor,
ihr flatternder Mantel streift ihn, wie ein

eisiger Luftzug, sein Athem stockt, da
sitzt das Gespenst in seinem Zimmer, auf
seinem Bett und grinst wie ein Wahnsinns-
gedanke — er stürzt zusammen — —

Hier ist der Roman mit der Ausführung
der Idee zu Ende. Dostojewsky fühlt aber,
dass die Menge, eher logisch als empfin-
dungsvoll, die Consequenzen fordert, da
gibt er sie denn mit der Gewaltthätigkeit
eines Genies. Er erhebt die Illusion zur
Hallucination und führt den richtigen
Doppelgänger des Herrn Goljadkin, gleichen
Namens, von gleicher äusserer Erscheinung
in die Erzählung ein. Diese Gestalt bleibt
aber trotz ihrer scheinbaren Realität ein
Phantasiegebilde, da sie vollständig jenem
handelnden Ich entspricht, das der wahre
Goljadkin für sich erträumte. Doch das
ist für die Menge, die nicht begreifen würde,
dass all die vorausgehende Innerlichkeit
bereits von einem ganzen Leben erzählt,
und noch ein Histörchen will. Wie der
falsche Goljadkin den Helden zu beseitigen
sucht und ihn schliesslich moralisch ver-
nichtet, kann symbolisch aufgefasst werden,
endet natürlich, erzählend genommen, mit
dem Irrenhaus.

Weitere Aufklärungen über die Haupt-
person des Romans als Charakter erhält man
aus den anderen Romanen Dostojewskys,
denn er hat seine eigenartige Vorliebe und
Sympathie für diesen haltlosen, zaudernden,
ohne Zusammenhang mit den Menschen
und der Gesellschaft in seiner Lebensnaivität
rührenden Charakter. Wie dieser an sich
selbst und seinen nothwendig falschen
Voraussetzungen und Voraussichten in
Bezug auf das Leben und Treiben der
Welt zu Grunde gehen muss, zeigt auch
im »Raskolnikow« und im Roman »Der
Idiot« das tragische Geschick der Helden,
die einsam, krank, absonderlich die Eigen-
heiten des »isolierten Charakters« an sich
tragen.


Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 9, S. 221, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-03-01-09_n0221.html)