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Die Werke des grossen englischen
Kritikers und Nationalökonomen sind erst
zum kleinsten Theil ins Deutsche über-
tragen worden. Aber wir haben ein Recht,
ihres tiefen künstlerischen und ethischen
Gehaltes theilhaftig zu werden. Sie haben
in England die Autorität der Manchester-
schule zum erstenmal von Grund auf
erschüttert. Ihre kolossale Verbreitung*
hat die Culturstufe Englands mehr ge-
hoben, als irgend ein anderes Lebens-
werk eines einzelnen Menschen.
Seine ersten Aufsätze wurden in der
Zeitschrift »The Cornhill Magazine« ver-
öffentlicht, erregten aber einen solchen
Sturm wildester Anfeindung in der ge-
sammten englischen Presse, dass der
Verleger der Zeitschrift sich weigerte,
nach dem vierten Artikel einen weiteren
zu bringen! Demgegenüber trat Thomas
Carlyle so ziemlich als Einziger für Ruskin
ein. Die drastischen Worte, mit denen
er den Autor in einem Brief ermunterte,
mögen hier Platz finden, da sie für beide
Männer charakteristisch sind und zugleich
ein Zeitstimmungsbild geben von den
heissen Schlachten, die damals ausge-
fochten wurden auf national-ökonomischem
Gebiete. Carlyle schrieb:
»Ich las Ihre Artikel mit Wohllust,
mit Jauchzen und oftmals mit hellem
Gelächter und Bravissimo-Rufen. Ein solches
Ding plötzlich an einem Tag in eine halbe
Million vernagelter britischer Hirnkasten
hineingeschleudert, wird viel Gutes thun.
Ich bewundere an vielen Stellen die luchs-
äugige Schärfe Ihrer Logik, die glühende
Beisszange, mit der Sie gewisse ge-
schwollene Backen und aufgeblasene
Wänste anpacken. Verharren Sie die
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nächsten sieben Jahre bei dieser Arbeit,
und erzielen Sie dabei den gleichen Er-
folg, wie in der Malerei. Inzwischen freut
es mich, dass ich mich von nun an in
einer Minorität von zwei Stimmen be-
finde.«
Die hier auszugsweise wiedergegebenen
Gedanken sind in Form von Vorlesungen
an der Universität Oxford vor einer Zu-
hörerschaft von Studenten und Laien
gegeben worden zu einer Zeit (1870),
als kein Hörsaal gross genug war, um
die Zuhörer zu fassen. Denn Ruskin war
kein Prediger in der Wüste. Durch den
prophetischen Ernst und die heilige Über-
zeugung seiner Rede zog er die Menschen
an. Er wollte keine Fachkünstler heran-
bilden, sondern Menschen, welche Natur
und Leben nicht nur wissenschaftlich ana-
lytisch, sondern mit der Empfindung,
ethisch und ästhetisch, aufnehmen und
durchdringen können. In seinem Vorwort
zur Gesammtausgabe dieser Vorträge
(»Lectures on Art«) sagt er selbst:
»Sie sind der wichtigste Theil meiner
literarischen Arbeiten, mit ungehemmter
Kraft und unter dem günstigsten Zu-
sammenwirken äusserer Umstände durch-
geführt. Sie wurden geschrieben und vor-
getragen, als noch meine Mutter lebte,
deren innigste Antheilnahme an allen
meinen Bestrebungen mich stärkte, wäh-
rend meine Freunde unentwegtes Ver-
trauen in mich setzten und die Richtung
und Tragweite meiner Unternehmungen
geeignet schien zur Übernahme höherer
Verantwortung und ernsterer Aufgaben,
als die eines wissbegierigen Touristen
oder gelegentlichen Lehrers und Schön-
redners.
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