Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 9, S. 214

Kunst und Moral I. (Ruskin, John)

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Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 9, S. 214

Text

RUSKIN: KUNST UND MORAL.

Männer unserer Tage mögen vielleicht
lächeln über manche sanguinistischen Äusse-
rungen in den ersten vier Vorträgen,
aber es ist nicht meine Schuld allein,
dass manche Hoffnung unerfüllt geblieben.
Auch halte ich fest an der Hoffnung auf
den künftigen Erfolg anderer Führer, und
widerrufe keine Voraussage in Bezug auf
den endgültigen Nutzen ehrlicher, hin-
gebender Anstrengung in der angedeuteten
Richtung.«

Lassen wir nun Ruskin selber das
Wort. Bei dieser freien Übertragung habe
ich nur das wiederzugeben für wünschens-
wert angenommen, was allgemeine Be-
deutung und Anwendbarkeit in sich schliesst.
Was nur persönliche Momente oder rein
locale Beziehungen enthält, ist fortgelassen.

ÜBER DAS VERHÄLTNIS
ZWISCHEN KUNST UND MORAL.

Sie werden sich erinnern, dass wir zu
Anfang meiner letzten Vorlesung über die
dreifache Wirkung sprachen, welche die
Künste ausüben und nur ausüben können:
Das Erwecken religiöser Empfin-
dungen im Menschen
, die Vervoll-
kommnung seines ethischen Wesens
und den materiellen Nutzen
, den sie
ihm zu geben vermögen.

Wir wollen heute die Art ihrer Ein-
wirkung untersuchen auf dem zweiten
Gebiete: der Vervollkommnung der ethi-
schen oder moralischen Natur des Menschen.

Um Vervollkommnung handelt es sich,
wohlverstanden, nicht um Erzeugung.
Erst müssen wir den ethischen Boden
haben, bevor wir Kunst empfinden und
aufnehmen können. Ist aber die Kunst
einmal aufgenommen, so verstärkt und
erhöht ihre rückwirkende Kraft den ethischen
Kern, aus dem sie entsprungen und theilt
gleichzeitig anderen Gemüthern, welche
schon ethisch zur Aufnahme vorbereitet sind,
ihre Freudenbotschaft mit.

Nehmen wir als Beispiel die Kunst
des Gesanges und den schlichtesten kleinen
Meister derselben innerhalb seiner eigenen,
von der Natur gegebenen Grenzen — die
Lerche. Von ihr können wir lernen, was
das heisst »vor Freude zu singen«. Aber
erst müsst Ihr den moralischen Zustand
der reinen Freude haben, dann ihm den

vollendeten Ausdruck leihen; so wird er
in sich vollkommen gemacht und über-
tragbar auf andere freudefähige Geschöpfe.
Unübertragbar aber ist er auf diejenigen,
welche zu seiner Aufnahme nicht innerlich
vorbereitet sind.

Jeder menschliche Gesang ist dement-
sprechend der vollendete Ausdruck durch
die Kunst von der Freude oder dem
Schmerz edler Geschöpfe in Bezug auf
rechte und grosse Empfindungen. Und
genau im Verhältnis zur Grösse des Motivs
und zur Reinheit des Empfindens steht
die erreichbare Möglichkeit in den schönen
Künsten. Ein Mädchen vermag um ihre
verlorene Liebe zu singen, aber ein Geiz-
hals nicht um sein verlorenes Geld. Und
mit Sicherheit gilt, vom höchsten bis zum
tiefsten: die Schönheit der erreich-
baren Kunst ist der Gradmesser für
die moralische Reinheit und Hoheit
der Gemüthsbewegung
, welche sie
erzeugt hat
.

Jederzeit könnt Ihr die Stichprobe
machen. Prüft selber irgend ein Gefühl,
welches Euch ganz erfüllt und fragt dann:
»Könnte dies von einem Meister gesungen
werden, edel gesungen, mit wirklichem
Wohlklang und Künstlerthum?« Dann ist
es ein richtiges Gefühl. Könnte es gar
nicht oder nur in lächerlicher Form ge-
sungen werden? So war’s ein niedriges.
Das ist für alle Künste gleich. Mit
mathematischer Genauigkeit, ohne Irr-
thum und Ausnahme, ist die Kunst eines
Volkes, soweit sie in die Erscheinung
tritt, der genaue Spiegel seines ethischen
Zustandes. Wohlgemerkt, ein Spiegel, ein
erhabener Ansporn, nicht die Wurzel oder
Ursache. Ihr könnt Euch nicht »zu guten
Menschen malen oder singen«; erst müsst
Ihr gute Menschen sein, ehe Ihr malen
oder singen könnt; dann wird die Macht
der Farben und Töne das Beste in Euch
vollenden.

Und das ist es, was ich Euch ans
Herz legen wollte, als ich in der ersten
einleitenden Vorlesung sagte, »hört vor
allem auf dies«, nämlich, dass kein Kunst-
unterricht Euch nützen könnte, sondern
eher schaden würde, wenn er nicht in
etwas noch Tieferem wurzelte, als alle
Künste. Denn in der That, nicht nur mit
dem, dessen es meine Aufgabe ist, Euch

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 9, S. 214, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-03-01-09_n0214.html)