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Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 10, S. 246

Text

Sinne jener, welche an der modernen
Civilisation krank, wund und leidend sind
(also der uneigentlich »Modernen«).

Es gehört die grösste Tapferkeit der
Seele und die stärkste Spannung des
Geistes dazu, um diese heroische Musik
anzuhören, geschweige denn dieselbe als
geistiges Eigenthum in sich aufzunehmen
und zu Kräften des Blutes und des Kör-
pers zu verwandeln. Einige demüthige
Worte Beethovens über Klopstock schei-
nen mir prachtvoll auf Bruckner zu passen:
»Ich habe mich jahrelang mit ihm ge-
tragen, wenn ich spazieren gieng und
sonst. Ei nun: verstanden hab ich ihn
freilich nicht überall. Er springt so herum,
er fängt immer gar zu weit von oben
herunter an; immer Maestoso! Des-dur!
Nicht? Aber er ist doch gradaus und
hebt die Seele.« So fängt auch die
6. Symphonie von Bruckner weit von
oben herunter an. Ein riesiges Bassthema,
welches 12 Takte lang mit mächtigen
Schritten von Gipfel zu Gipfel schreitet.
Dann »springt« er weiter so herum. Immer
von Gipfel zu Gipfel. Maestoso. A-dur.
Bis zu den triumphalen Schlussfanfaren
des Werkes. In der Mitte steht ein Adagio,
vielleicht die ergreifendste, innigste und
weltvergessendste Musik, die Bruckner
geschrieben hat. Alles wird feierlich still
und man hört Wagners »Siegfried-Idyll«
dem Künstler auf leichten Sohlen in den
Sinn treten. Der letzte, zarteste und
innigste Gruss Wagners an Bruckner, der
dem Meister in der folgenden Symphonie
die letzten Ehren erwies mit dem ergrei-
fenden, über alles menschliche Mass er-
habenen Adagio der 7. Symphonie.

Liszt: Faust-Symphonie. — Für
die jüngere Generation ist die Aufführung
der Liszt’schen Faust - Symphonie durch
das Münchener Kaim-Orchester die erste
Aufführung dieses Werkes in Wien.

Derselbe Mangel an psychologischem
Takte, der es erlaubt hat, allgemein
»Schüler und Goethe« zu sagen, hat
auch die Combination »Wagner und

Liszt« verschuldet. Von den modernen
Componisten ist freilich Liszt die ver-
führerischeste Persönlichkeit. Seine Art,
sich in Scene zu setzen, ist eine impo-
sante. In ihm wirkt eine grandiose schau-
spielerische Natur mit allen Mitteln einer
genialen Virtuosenbegabung, einer äusserst
vornehmen, hierarchischen Cultur, den
feinsten und seltensten Eigenschaften des
Herzens und einer universellen Bildung.
Als Componist ist Liszt vielleicht der
vollendetste Schauspieler. Deshalb ist er
gross, neu, revolutionär in der darstel-
lenden Musik. Er hat in seinen sympho-
nischen Gedichten die tiefsten Seelen-
zustände, die ganze Welt- und Literatur-
geschichte, die Geschichte der Heiligen
und des Heilands, Faust und Tasso, Dante
und Lamartine, Byron und Jacopono
di Todo, selbst Michel Angelo und Raphael
musikalisch - schauspielerisch dargestellt.
So ein gewaltiges Schauspiel ist auch
Liszts Faust-Symphonie. Aber — ach! ein
Schauspiel nur. Der componierende Wagner
ist alles. Die Tristan-Stürme sind aus den
Qualen und Krämpfen seines Inneren heraus-
componiert. Der componierende Liszt
stellt alles dar
. Seine Faust-Stürme sind
von einer literarisch-geschulten Phantasie
genial vorgespielt. Mit zarter und feiner
Delicatesse hat Richard Wagner selbst die
Compositionen Liszts als Blüten und
Transfigurationen seiner Virtuosennatur
bezeichnet. Man lese einmal den Brief,
vom 12. Juli 1856. Namentlich die Stelle:
»Du musstest darauf verfallen, Deine per-
sönliche Kunst
durch das Orchester
zu ersetzen, d. h. durch Compositionen,
die vermöge der unerschöpflichen Hilfs-
mittel des Vortrages im Orchester Deine
Individualität wiederzugeben im Stande
waren, ohne dass es in Zukunft Deiner
individuellen Person dabei bedürfte. So
gelten mir Deine Orchesterwerke jetzt
gleichsam als eine Monumentalisierung
Deiner persönlichen Kunst
und
hierin sind sie dauernd unvergleichbar.«

Wien. Dr. Max Graf.


Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 10, S. 246, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-03-01-10_n0246.html)