Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 10, S. 245

Secession Perosi: »La risurrezione di Lazzaro«; Anton Bruckner: 6.Symphonie (Schölermann, Wilh.Graf, Dr. Max)

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Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 10, S. 245

Text

CONCERTE.

das allen gegeben und für Flächenschmuck
angepasst.

Wie lange wird es dauern, bis wie-
derum abgeschlagen, niedergerissen und
etwas Neues an die Stelle gesetzt wird?
Denn die Gebelust der Vereinigung ist
unerschöpflich. Eben darin liegt das Er-
zieherische. Denn zum Ausruhen ist keine

Zeit, wo es gilt, noch soviel zu über-
winden.

Wo aber bleiben die »Arbeiterführun-
gen?« Ist man ihrer nicht mehr einge-
denk, wie erfreulich sie in der Garten-
baugesellschaft gewesen sind? Ist man
ihrer schon leid geworden? Das wäre
schade.


CONCERTE.

Perosi: »La risurrezione di
Lazzaro
«. — »Es ist unsere Aufgabe, die
Reinheit der Musik festzuhalten und zu ver-
hüten, dass sie, nachdem sie in der Form des
Barockstils und nach langer Einverleibung
jetzt ungeheurer plötzlicher Wirkungen
fähig gemacht ist, zu mystischen halb-
religiösen Zwecken missbraucht wird. Jeder
kommende Hexenmeister und Cagliostro
wird versuchen, mit Musik und Spiritismus
zu wirken; es sind Wiedererweckungen
religiöser und sittlicher
Instincte auf
diesem Wege möglich — vielleicht dass
man dem christlichen Abendmahle wieder
eine innere Glut durch Musik zu geben
versuchen wird.« (Nietzsche, Nachlass-
schriften.) Das Auftreten und der Erfolg
Perosis sind die Vorzeichen für die Rolle,
welche die Musik in der grossen — viel-
leicht der letzten — Entscheidungsschlacht
der christlichen Welt zu spielen berufen
sein wird. Sie wird der grossartigste Aus-
druck und die siegreichste Waffe der
religiösen Instincte der europäischen Ge-
sellschaft sein. Wir stehen vielleicht vor
der Renaissance einer neuen religiösen
Musik, welche in ihrer grossartigen
schwärmerischen Kraft, Tiefe und Er-
griffenheit alle andere Musik weit hinter
sich lassen wird. Freilich, Perosi ist nicht
dieser Hexenmeister. Er verheisst ihn nur.
Er ist der Johannes, dem ein Grösserer
erst folgen wird Seine Musik ist
die eines edlen, vornehmen sensitiven
Geistes, der einen sehnsüchtigen Blick für
das Musikalisch - Monumentale und die
grosse dramatische Action besitzt. Eine
zum Religiösen vergeistigte Sinnlichkeit
gibt der Musik einen prachtvollen, weichen

und berückenden Klang. Ähnlich etwa dem
des Gounod’schen Orchesters. Allein die
eigentlich musikalisch-schöpferische Kraft
ist eine kleine. Sie ist unfähig, grössere
Massen zu spannen und zu wölben. Im
Ausmalen kleiner Einzelzüge ist sie schön
und ergreifend. So z. B. bei den Evangelien-
stellen: »Als Jesus sie sähe weinen und die
Juden auch weinten, die mit ihr kamen, er-
grimmte er im Geist und betrübte sich selbst«
und »Jesus ergrimmte abermal in ihm
selbst« (die freilich im Luther’schen Deutsch
kraftvoller und männlicher musicieren, als
in dem Oratorium des femininen Perosi).
Die inspiratorische Gewalt, welche solche
Einzelmomente zum Grossen verbindet und
das Ganze trägt, fehlt; der grosse Athem,
die starke Leidenschaft. So bleibt Perosi
ein dilettantischer, sehr feiner und edler
musikalischer Miniaturist. Sein Erfolg ist
ein sehr interessantes Intermezzo in der
modernen europäischen Gesellschaft, wenn
auch keine Haupt- und Staatsaction in
der Geschichte der Musik.

Anton Bruckner: 6. Symphonie.
— Wenn man abschätzen soll, welche
grossen musikalischen Kunstwerke die Kraft
in sich tragen, in reinere, kräftigere und
männlichere Zeitalter hinüberzuschreiten,
so wären es einzelne Theile der Werke
Richard Wagners — die Siegfriedmusik
und die der »Meistersinger von Nürn-
berg« — und sämmtliche Werke von
Anton Bruckner. Es gibt vielleicht keine
unzeitgemässere Musik als die Bruckners.
Sie ist unmodern sowohl im Sinne der-
jenigen, die sich in der Civilisation von
heute wohl und heimisch fühlen (also der
eigentlich »Unmodernen«), als auch im

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 10, S. 245, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-03-01-10_n0245.html)