Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 10, S. 240

Die Tragödie des d’Annunzio Kunst und Moral II. (Cippico, AntonRuskin, John)

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Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 10, S. 240

Text

RUSKIN: KUNST UND MORAL.

brunst und den in hochzüngelnde Flammen
wie in einen brennenden Scheiterhaufen
gehüllten »Bucentoro«, während die ver-
zweifelten Stimmen der Kämpfenden her-
überschallen, die den letzten Ruf: Pantea!
wie den Namen einer angerufenen Göttin
in die Lüfte senden.

Dies ist der Inhalt und die Handlung
dieses »Traumes«, der eine der grössten
und wunderbarsten tragischen Conceptionen
ist, die ich kenne, ein hehres, in über-
menschlicher Kunstform ausgedrücktes Sym-
bol des stets von uns gekämpften Kampfes
um die Schönheit, die einzige Göttin.


KUNST UND MORAL.
Von JOHN RUSKIN.
Übertragen von WILHELM SCHÖLERMANN.
II.

Wir kommen nun zum zweiten und
für uns praktisch wichtigsten Punkt:
»Worin besteht die Wirkung der
Kunst auf die Menschen in ethischer
Beziehung
? Was hat sie gethan
für die nationale Moralität in ver-
gangenen Zeiten und welchen Effect
wird eine ausgedehntere Kenntnis
oder der Besitz derselben vermuth-
lich heute und künftighin auf uns
haben

Zunächst stossen wir dabei auf manche
merkwürdige, ebenso düstere, wie unbe-
streitbare Thatsachen. Es gibt ländliche
Bevölkerungsschichten, welche kaum die
rohesten Versuche und Ansätze zu künst-
lerischer Bethätigung kennen, welche
dabei in verhältnismässiger Unschuld,
Rechtlichkeit und Zufriedenheit leben;
Während andererseits die grössten Grau-
samkeiten und Verirrungen wilder Stämme
häufig gepaart und verschlungen sind
mit grosser Begabung im Gebiete der
schmückenden (decorativen) Kunst.

Gleichfalls lässt sich kaum leugnen,
dass kein Volk die höchste Stufe künst-
lerischer Entfaltung erreicht hat, ausser
in einer Periode der Verfeinerung, welche
befleckt ward durch häufige, gewaltsame
und selbst ungeheuerliche Verbrechen;
und schliesslich, dass das Erreichen der
Vollkommenheit in der künstlerischen
Ausdrucksfähigkeit bisher noch in jedem
Volk das Zeichen vom Beginn des Nieder-
ganges gewesen ist

In Bezug auf die erste Erscheinung
sei es festgestellt, dass, obwohl das Gute
niemals aus dem Bösen entspringt, es zur
vollen Höhe erst durch den Kampf mit
dem Bösen entwickelt wird. Es gibt Land-
bevölkerungen, ganz vereinzelt in un-
berührten Gegenden, welche fast so schuld-
los wie Lämmer sind; aber die Moralität,
welche der Kunst ihre Kraft gibt, ist die
Moralität von Menschen, nicht von Schaf-
herden.

Dann ist aber auch die Tugend der
Bewohner mancher ländlicher Gegenden
nur scheinbar, nicht unanfechtbar; ihr
Dasein ist kunstlos, aber nicht rein; es ist
nur die Einsamkeit der Lebensbedingungen,
die Entfernung aller Versuchung, welche
das Hervortreten niederer Leidenschaften
hindert, die aber darum nicht minder vor-
handen sind, weil sie schlummern, nicht
weniger verächtlich, weil sie nur in kleinen
Fehlern oder passiven Gehässigkeiten sicht-
bar werden.

Aber das finden wir überall: vollständige
Kunstlosigkeit ist Menschen von irgend
welcher moralischer Gesundheit unmöglich.
Sie haben immer zum mindesten die Kunst,
durch die sie leben — Ackerbau oder See-
fahrt; in diesen Beschäftigungen, wenn sie
zur Geschicklichkeit ausgebildet sind, ist
das Gesetz ihrer moralischen Zucht ent-
halten. Was auch immer für störende
Einflüsse sich geltend machen, jede ge-
sunde Bauern- oder Seemannschaft hat mit
notwendigen Bedürfnissen eine ziemlich

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 10, S. 240, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-03-01-10_n0240.html)