Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 10, S. 235
Text
Auf den blühenden Kastanienzweigen
Liegt das mitternächt’ge grosse Schweigen.
Und der Tag mit allen seinen Stunden
Hat zur Ewigkeit zurückgefunden.
Und die Zeit entrollt die finstern Falten
Ihres Mantels, den die Sterne halten.
»Sag, was hast Du, Heilige, geborgen?
»Sind es Seligkeiten? Sind es Sorgen?«
Doch sie schweigt und wandert in die Weiten —
Jeder Schritt wird zu Vergangenheiten
Aber es erwacht wie süsses Reden,
Wie Geheimes aus verschlossnem Eden;
Aus den blühenden Kastanienzweigen
Weht der Wind hinweg das grosse Schweigen;
Und er redet: »Die da blühn und leben,
»Sollen sich dem Gegenwärt’gen geben.
»Und die Flammen, die in Seelen glühen,
»Sollen nicht verlodern, nicht versprühen;
»Folgen sollen sie dem Lebenswerben:
»Denn im Unterlassen liegt das Sterben!«
Strassburg. ALBERTA von PUTTKAMER.
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 10, S. 235, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-03-01-10_n0235.html)