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Wenn wir mit scharfem Blicke die ge-
heimnisvollen Tiefen unserer Seelen prüfen,
so offenbart sich uns heute ein gar mannig-
faltiger und seltsamer Kampf von In-
stincten und Gefühlen, als schwacher,
düsterer Wiederschein jenes titanischen,
ungeheuerlichen Kampfes, der gebunden
in den Windungen socialen Lebens lodert.
Alles lässt uns auf eine nahe Kata-
strophe deuten, aus der — wie in
den griechischen Tragödien die dramatis
personae — unsere heutigen Ideen und
Bestrebungen siegreich oder besiegt unter
dem unverbrüchlichen, düsteren Einfluss
des Fatums hervorgehen werden. In jedem
von uns liegt — und nie wurde diese
traurige Wahrheit mehr denn heute von
allen empfunden — ein Stück der angst-
erfüllten Seele des Ödipus und der Schein
des zweideutigen Lächelns der Sphinx.
Daher gibt es keinen günstigeren Augen-
blick, als den jetzigen für die Wiedergeburt
des dyonisischen Ritus, denn in unseren
Seelen ist der Aufruhr und die erwartungs-
volle Spannung eines tragischen Schau-
spiels. Nur die Tragödie kann einen Geist
der niederdrückenden Wirklichkeit ent-
reissen und die wunderbaren Reiche des
Mysteriums und des Idealen in kräftigem,
raschen Aufflackern beleuchten und weiten.
Diese Tendenz wurde von dem wach-
samen Geist eines italienischen Dichters
mächtig erfasst, der in seinem mannig-
faltigen Werke alle Bestrebungen und
Schwächen des modernen Geistes wieder-
gespiegelt hat. Gabriele d’Annunzio
hat wie kein anderer zeitgenössischer
Dichter in seinen Büchern alle Ekstasen
und Kämpfe und Niederlagen des von
gleichen Lüsten gequälten Geistes und
Fleisches geschildert; keiner konnte daher
besser als er die moderne Tragödie
schaffen, die von der antiken die Schön-
heit und Feierlichkeit der Linien, die Ein-
fachheit, Harmonie und Tiefe der Hand-
lang bewahrt hat.
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Wie Wagner, der sich in seinem
ungeheueren Werke bestrebte, die Ge-
müther seelisch zu läutern, ist Gabriele
d ’Annunzio bemüht, als Apostel zu wirken,
indem er den kostbaren Keim der Schön-
heitsreligion in die Herzen streut. Aus
allen seinen Büchern, aber besonders aus
seinen letzten Tragödien, steigt eine klare,
leichtbeschwingte Schönheitsvision. In der
Città morta (Die todte Stadt), die
von Sarah Bernhard in der Pariser Re-
naissance aufgeführt wurde, entwickelte
sich die Handlung, wenngleich modern
in den Einzelheiten, zu sehr dem griechi-
schen Urbild gemäss, so dass die Kata-
strophe von demselben Fatum bestimmt
schien, das den Untergang der Nach-
kommen des Lajos herbeiführte; sogar
das Verbrechen selbst, das Ödipus unbe-
wusst begangen hatte, kehrte, wenngleich
in fieberhafterer Art, wieder und warf
sein düsteres Licht über die Bühne. In
den letzten Büchern hingegen hat sich
der griechische Einfluss, obgleich noch
gebunden vorhanden, wie ein Wasser-
strom im Innern eines blühenden Hügels,
bedeutend abgeschwächt und ist gleich-
sam dahingeschwunden vor unseren Augen,
die noch erfüllt waren vom erhabenen
Glanz der hellenischen Tragödien.
Gabriele d’Annunzio bot uns noch
andere Tragödien, wie La Gioconda,
die bereits veröffentlicht ist, Frate
Sole und La tragedia della folla
und schliesslich die 4 Sogni delle
Stagioni (Träume der vier Jahres-
zeiten), die tragische Dichtungen sind
und von denen erst zwei erschienen;
und wir setzen unser Vertrauen in ihn
als den Wiederbeleber des italienischen
Theaters, den Reformator der Tragödie,
die der erhabenste Kunstausdruck ist. —
Wer weiss, ob sich nicht sein stolzer
Traum vom Theater in Albano in Kürze
erfüllen und sich nicht von dort aus das
wunderbare Licht der neuen italienischen
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