Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 10, S. 241

Kunst und Moral II. (Ruskin, John)

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Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 10, S. 241

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RUSKIN: KUNST UND MORAL.

ausgebildete Form der schmückenden Kunst
in der Kleidung, meistens auch im Gesang
und in der einfachen Hausarchitektur des
Innenraums.

Die Kunstbethätigung uncivilisierter
Völker ist das Resultat einer intellectuellen
Activität, welche keinen Raum zur Ent-
faltung in richtigen Bahnen gefunden hat,
welche durch die Tyrannei irgend welchen
menschlichen oder natürlichen Zwanges,
durch unterdrücktes Wachsthum entartet
ist; wo weder durch das Christentum noch
andere Religionen, die eine moralische
Stütze zu geben vermögen, ein Halt ge-
boten ward, da flammte die thierische
Energie solcher Rassen in abschreckender
Gestalt empor und die grotesken oder ent-
setzlichen Formen, welche ihre Kunst
annahm, sind die genauen Gradmesser
ihres entgleisten und zerrissenen ethischen
Zustandes.

Alle wahrhaft grossen Nationen sind
aber aus Rassen hervorgegangen, die
schöpferische Einbildungskraft besassen.
In der ersten, frühen Zeit ist ihr Ent-
wicklungsgang äusserst langsam und ihr
Dasein selten ein stilles und schuldloses,
sondern voll fieberhafter und oft schuld-
beladener animalischer Energie. Diese wird
allmählich gedämpft, gemildert und zu
lichtvolleren, menschlichen Daseinsformen
durchgeklärt und gehoben. Der Kunst-
instinct wird reiner mit jeder Stufe der
Höherentwicklung des gesammten Geistes-
lebens, bis annähernde sociale Vollkommen-
heit in Sicht ist; dann aber beginnt die
Periode, wo das ethische Bewusstsein und
der Intellect gleichzeitig so geschärft sind,
dass aus der Unmöglichkeit, die moralischen
Forderungen des einen ganz zu erfüllen und
die Zweifel des andern zu beschwichtigen,
neue Irrthümer entspringen. Alsdann geht
die Ganzheit des Volkes allmählich
verloren. Alle Arten von Heuchelei
oder wissenschaftlicher und dialectischer
Spitzfindigkeit entwickeln sich; der Glaube
wird einerseits untergraben und versucht,
andererseits einen Compromiss einzugehen.
Überreichthum nimmt gleichzeitig eine
zersetzende Ausdehnung an; Luxus folgt
und damit wird der Zerfall der Nation
unvermeidlich. Während dieser ganzen
Aufwärts- und Abwärtsbewegung sind die
Künste in jeder Phase einfach die getreue

Chronik der ethischen Entwicklung. Es ist
wahr, dass die glänzendsten Resultate
meistens in dem unaufhaltsam reissenden
Vorwärtsstürmen gegen den Abgrund er-
reicht werden; aber deswegen die Schuld
an der Katastrophe in der Kunst suchen
zu wollen, hiesse dasselbe, wie die Ursache
des Wasserfalles aus den Farben seines
Regenbogens erklären.

Die Liebe zur Schönheit ist jeder
gesunden menschlichen Natur angeboren
und obwohl sie neben manchen Lebens-
äusserungen bestehen kann, die laster-
haft und verderblich sind, ist sie selber
dennoch gut — der Feind des niederen
Geizes, Neides, der kleinlichen Weltsorgen
und namentlich der Grausamkeit und Gewalt-
samkeit. Sie geht unter, sobald diese ganz
die Oberhand gewinnen. Die Menschen,
in denen dieses Schönheitsgefühl am
stärksten war, waren stets milde, mit-
fühlend und gerecht und die frühesten
Entdecker und Verkünder von Dingen,
die zum Glücke der Menschheit bei-
tragen.

Wie in der Liebe, so beginnt auch
in der Leidenschaft für Schönheit die
Erhöhung und Veredlung mit dem Ein-
tritt der Einbildungskraft, welche sie
erregt und zugleich beherrscht. Denn die
Leidenschaften zu unterdrücken, was
oft irrthümlich als unsere Pflicht ihnen
gegenüber angesehen wird, fällt einer abge-
stumpften selbstzufriedenen Kälte gar nicht
so schwer. Aber sie zu erregen, richtig
zu wecken und für das Gute thatkräftig
auszurüsten, ist das Werk unselbstsüchtiger
Einbildungskraft.

Es wird fortwährend behauptet, dass
die Menschheit herzlos sei. Glaubt es
nicht. Im Grunde ist sie liebefähig und
gütig, nur blind und eng umgrenzt, so
dass sie selten etwas wahrnehmen und
nachfühlen kann, als was sie unmittelbar
umgibt und berührt. Die Menschen würden
sich weit mehr lieben und Gutes er-
weisen, wenn sie sich andere so unmittel-
bar vorstellen könnten, wie sich selbst.
Sie entbehren der Einbildungskraft.

Alles, was wir thun und werden
und leisten können
, hängt ab von
der Herrschaft der zwei künst-
lerischen Instincte
, der Ordnung
und Güte
, dieser grossen Vor-

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 10, S. 241, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-03-01-10_n0241.html)