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dem gestreckten Arm einen quälenden
Gedanken abwehrenden Dichters, genug
weit ausgearbeitet, dass man an ihr
in der summarischen, aber kräftigen, leiden-
schaftlichen, ausdrucksvollen Behandlung
der Formen die mächtigen Eigenschaften er-
kennen kann, die Herrn Rodin schon bei
einigen vereinzelten Stücken Beifall ein-
trugen. Wenn Herr Rodin mit mehr Genauig-
keit und Correctheit die beiden allego-
rischen Figuren, welche die Bedeutung der
Gruppe vervollständigen sollen, bestimmt
und sie durch besser gerathene Linien-
und Massenvertheilung mit der Hauptfigur
verbunden haben wird, werden wir vielleicht,
wie wir es wünschen, in diesem heroi-
schen Werke das endgiltige Meister-
werk begrüssen können, das die Freunde
des Bildhauers uns seit einiger Zeit
ankündigen; bis nun aber sind wir
wohl gezwungen, bei den Hoffnungen
zu bleiben, so wie er bei Versprechungen
bleibt.« Und er, der grosse Künstler, sagte
indes in vollkommener Heiterkeit: »Ich
habe viele Mühe gehabt, ich habe ganz
sachte gewagt. Angesichts der Natur habe
ich mich, je besser ich sie verstand, je
kühner ich, um sie zu lieben, die Vor-
urtheile abschüttelte, entschlossen, ich habe
versucht. Das Studium der Antike hat
mich ermuthigt und auch die Sculptur des
Mittelalters, die ebenso schön ist wie die
der Griechen. — Jeder deutet die Natur
in dem Sinne, den er liebt; ich habe
mir schliesslich den meinen klar gemacht.«
Und über den so arg zugerichteten Balzac
sagte er noch einem Schriftsteller, Herrn
Mauclair, der die Worte aufschrieb: »Ich
fühlte in meinem Innern, dass ich recht
hatte, und wäre ich allein gegen alle ge-
standen. Meine hauptsächlichsten Model-
lierungen sind darin enthalten, was man
auch sagen möge, und sie wären weniger
darin, wenn ich äusserlich mehr beendigte.
Und was das Ausmeisseln und Wieder-
ausmeisseln der Zehen oder Haarlocken
anbetrifft, so hat das in meinen Augen
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gar keinen Wert, es beeinträchtigt die
Hauptidee, die grosse Linie, die Seele
dessen, was ich machen wollte, und ich
habe dem Publicum darüber nichts weiter
zu sagen. Hier ist die Grenzlinie zwischen
ihm und mir, zwischen dem Glauben, den
es mir zu bewahren hat, und den Conces-
sionen, die ich ihm nicht machen darf«.
Im ganzen ist Rodins Kunst aus-
schliesslich modern durch jene unbewusste
Combination von realistischen Versuchen
und mystischen Elementen, von Sinnlich-
keit und Geistigkeit, jenem — vielleicht
ewigen — Dualismus der menschlichen
Natur. Er hat den grellen Eindruck
wiedergegeben, den der Reiz zitternden,
warmen Fleisches und der glatten, ge-
schmeidigen Haut hinterlässt; aber auch
den tiefen Eindruck, den die Betrach-
tung der Brauen eines Denkers oder
der Wimpern eines Träumers erzeugt.
Weil Rodin aufmerksamen Auges die
unendliche Manigfaltigkeit der Natur be-
obachtet und weil seine gewandten Finger
die Hilfsquellen der Kunst kennen, hat
er sich nicht auf immer in eine Formel
verschlossen.
Er gehört nicht zu jenen, die man
in wenigen Worten genauer Eintheilung
definieren kann. Er hat Formen, Stel-
lungen, Bewegungen gründlich studiert
und aufrichtig wiedergegeben; er konnte
so der Wahrheit, der grossen Synthese,
nahekommen, und wenn man die Empfin-
dungen zusammenfassen wollte, welche
diese so einfache und zugleich complicierte,
so raffinierte und so barbarische, so harmo-
nische und so sprunghafte Kunst erweckt,
so könnte man es nicht besser als durch
die Wiederholung eines einzigen Satzes
von Eugene Carrière, einem ebenfalls
sehr grossen Künstler:
»Rodin verschafft uns das wunder-
bare Schauspiel eines Wesens, das
in vollständiger Übereinstimmung
mit den Naturkräften steht.«*
Brüssel, im Juni 1899.
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