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Correctheit und Genauigkeit, einzig und
allein in dem Gedanken gefertigt, den so
flüchtigen Eindruck einer Bewegungslinie,
einer durch Anstrengung hervorgerufenen
Muskelschwellung oder einer zögernden
Geberde wiederzugeben. Sie sind von
aussergewöhnlicher Wahrheit. Man konnte
auch die elegant ausgestattete Sammlung
von 142 Zeichnungen sehen, die jüngst
auf Kosten eines Freundes des Meisters,
Herrn Maurice Fenailles, herausgegeben
wurden; ferner verstärkten noch eine
lange Reihe von Photographien seiner
Monumentalsculpturen, von verschiedenen
Seiten aufgenommen, und eine zahlreiche
Sammlung von Sculpturen, die fast alle die
ursprüngliche, kühne Weisse des frischen
Gipses trugen, die Wirkung einiger
schöner Bronzen mit reicher, mächtiger
Patina. Dort, in der Mitte der Halle, war
die »Eva« postiert, jene wunderbare, so
grossartig wahre Statue, die in drückender
Gewissensqual den Kopf auf die schamvoll
und schmerzlich gekreuzten Arme neigt;
dort auch Porträts, u. a. Puvis de
Chavannes, Rochefort, Falguières,
alle lange studiert und kraftvoll durch-
geführt; dann eine stolze und drohende
Bellonabüste; die Köpfe der »Bürger
von Calais« mit eigensinnigen Stirnen
und zähen Backenknocken; der Früh-
ling, wunderbar in zärtlicher Empfindung;
eine unter der zu schweren Last zer-
schmettert hingesunkene Karyatide; der
Denker Dante, auf den Ellbogen gestützt
und der Entfaltung seiner Träume zu-
sehend; und schliesslich der tragische Kopf
des heiligen Johannes, jenes Vorläufers,
dessen Stimme in der weiten Wüste wieder-
hallt, dessen Blick aber in der inneren
Vision des verhängnisvollen Zusammen-
hangs der Dinge verloren ist. — — —
Dann dort und da sonderbare Unter-
suchungen, unerwartete Resultate, Frag-
mente von köstlich oder grausam sinnlicher
Grazie, sicherer und gedrängter Model-
lierung oder in unbestimmter, wankender
Linie, und schliesslich das in so schönem
Gedankenreichthum erdachte Monument
Victor Hugos, das vor zwei Jahren bei
der Ausstellung in Paris so lebhaft um-
stritten wurde.
Es mag hier wohl interessant sein,
zwei Beurtheilungen dieses Werkes zu er-
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wähnen, die nicht etwa von Fanatikern
der böswilligen Kritik einer-, oder des
Lobes andererseits stammen, sondern von
einflussreichen, im Ausdrucke gemässigten
Kunstkritikern. Herr E. Rod schrieb in der
»Gazette des Beaux Arts«: »Welcher
Weg ist da zurückgelegt von dieser Maske
(dem Manne mit der zerquetschten Nase),
die nur eine mächtige Studie ist, bis zu
dem mit tiefem Kunstverständnis durch-
gearbeiteten Werke, welches das für den
Luxembourg bestimmte Monument Victor
Hugos ist! Der Dichter — wirklich es
handelt sich hier nicht mehr um Victor
Hugo, sondern um das Genie, und das
Antlitz nimmt einen ganz symbolischen
Ausdruck an — sitzt nackt wie ein Gott, in
wohlstudierter und harmonischer Stellung;
hinter ihm flüstert die tragische Muse, die
Muse der Dramen und der »Châtiments«,
ihm ihre Flammenreime zu; neben ihm harrt
die Alltagsmuse, jene der »Voix intérieures«,
der »Feuilles d’automne«, der »Chants du
Crépuscule«, in demüthiger, unterwürfiger
Haltung der Worte, die sie sammeln will.
Vereinzelt gestellt, würden diese, wenn
auch mit unvergleichlicher Meisterschaft
ausgeführten Figuren unvollständig bleiben.
Vereint bilden sie eine Gesammtheit von
imponierendster Majestät, eine Synthese
grosser Linien, die unter dem Wehen
eines Orkans sich zu beugen scheinen.
Was man uns hier zeigt, ist das Genie
in voller Thätigkeit, eine unbewusste
Kraft, die wie Wind und Leidenschaft her
vorbricht, wo sie will «
Andererseits schrieb Herr G. Lafenestre
in der »Revue des deux Mondes«:
»Wir wollen nur der Erinnerung halber
von der Gipsgruppe Victor Hugos von Rodin
sprechen, die so viel Lärm machte.
Dieses Werk ist im jetzigen Zustande nur
ein verrenktes unzusammenhängendes Mo-
dell, über welches ein Urtheil zu fällen
wohl verfrüht wäre. Der Katalog hat die
Güte, uns mitzutheilen, dass in dieser kolos-
salen Skizze ein unvollendeter Frauenarm
ist; welch optimistischer Katalog! Ach!
wenn nur ein Arm unvollständig wäre;
ein anderer Arm ist allerdings von un-
verhältnismässiger Länge; aber bietet dies
einen Ersatz? In der That ist nur eine
einzige Figur, die des nackt auf einem
Felsen am Meeresufer sitzenden und mit
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