Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 17, S. 395
»Blaubart und Ariane« (Maeterlinck, Maurice)
Text
Weite und prächtige Marmorsäulenhalle in Blaubarts Palast. Draussen, d. h. hinter
den Fenstern des Hintergrundes, eine aufgeregte Volksmenge, die zwar nicht sicht-
bar ist, sich aber durch ihr abwechselnd angsterfülltes, unruhiges und bedrohliches
Geschrei, durch plötzliche Bewegungen und Hin- und Herwogen deutlich bemerkbar
macht. Es ist Abend; die Kronleuchter sind angezündet, und die grossen und tiefen
Fenster, die den ganzen halbrunden Hintergrund des Saales ausfüllen, stehen offen.
Gleichfalls im Hintergrunde, etwas mehr nach links, eine verschlossene Thür.
STIMMEN IN DER MENGE:
Habt Ihr sie gesehen? — Ja, wir waren alle oben auf der Anhöhe. — Sie
gieng neben dem Wagen her. — Das ganze Dorf erwartete sie dort. — Ist sie
schön? — Oh, wie eine Königin auf Reisen. — Wie eine Heilige, wenn sie
lächelt. — Und ihre Augen? Sahet Ihr ihre Augen? — Sie blickte mich an. —
Mich auch. — Mich auch. — Sie sieht aus, als liebte sie alle Menschen. — Sie
scheint die Schönste im ganzen Reiche. — Eine solche Schönheit ist noch nie
gesehen worden. — Ich habe gehört, zwanzig Männer aus der Stadt wären ihr
gefolgt. — Warum? — Weil sie sie lieben. — Wo sind sie? — Sie sind dort
hinter den Linden. — Sie verstecken sich. — Sie erwarten sie. — Ich sah
etliche unter ihnen weinen. — Ich glaube, in den Strassen wurde geweint. —
Er soll sie nicht haben. — Nein, nein, sie ist zu schön. Er soll sie nicht haben!
— Von wo kommen sie? — Sie ziehen über die kleine rothe Brücke. — Nein,
nein, ich sehe Fackeln zwischen den Baumreihen. — Da ist auch der grosse
Wagen zwischen den Bäumen. — Wie heisst sie? — Ariane. — Warum ist
sie gekommen? — Das wäre also die sechste! — Nein, nein, es ist genug, es
ist genug, er zieht das Unglück auf sich. — Alles Getreide ist verdorben. —
Meine sechs Getreideschober sind abgebrannt. — Er soll sie nicht haben. —
Er ist toll! hu! hu! hu! Er soll sterben! Er soll sterben! Legt Feuer an! —
Wir haben unsere Heugabeln mit. — Und ich meine Sense. — Achtung! —
Sie kommen in den Hof. — Kommt, wir wollen sehen. — Es geht nicht. —
Die Thüren sind zu. — Wartet doch hier auf sie. — Es heisst, sie wusste alles.
— Und sie hat sich nicht gefürchtet? — Nein. — Heiliger Himmel! — Sie
weiss alles? — Was weiss sie? — Was ich auch weiss. — Aber was weisst
Du? — Dass sie alle nicht todt sind. — Nicht todt? — Oh, das ist doch
Ich habe gesehen, wie sie beerdigt wurden. — Ich auch, — Eines Abends, als
ich vorübergieng, habe ich singen hören. — Ich auch. — Ich auch
(In diesem Augenblicke steckt EIN KIND, das sich am Fensterkreuz festklammert,
den Kopf durch eines der Fenster in den Saal.)
DAS KIND:
Es ist niemand im Saale!
(DREI ODER VIER andere erschrockene KÖPFE erscheinen an den anderen
Fenstern.)
DIE KINDER AN DEN FENSTERN:
Es ist niemand im Saale!
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 17, S. 395, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-03-02-17_n0395.html)