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Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 17, S. 396

Text

MAETERLINCK: BLAUBART UND ARIANE.

STIMMEN IN DER MENGE:

Kommt! Kommt! Herunter!

DIE KINDER:

Nein Nein

(In diesem Augenblicke öffnet sich eine Thür zur Rechten; ZWEI SCHWARZE
DIENER mit brennenden Fackeln in der Hand kommen von innen.)

DIE KINDER AN DEN FENSTERN:

Die Mohren Die Mohren

RUFE VON DRAUSSEN:

Herunter! Herunter!

(Die Kinder verschwinden. Schweigen in der Menge. Die Schwarzen stecken die
Fackeln auf und gehen an die Fenster im Hintergrunde, die sie nacheinander schliessen.
Man hört keinen Ton mehr. Durch dieselbe Seitenthür kommen BLAUBART und
ARIANE, eng umschlungen. Die Schwarzen entfernen sich.)

BLAUBART:

Dies ist die Marmorgalerie. Seht Ihr diese Spiegel von Krystall und
Silber? Diese Laden von Ebenholz zwischen den Porphyrsäulen? Jede Lade
hat ihren Spiegel, und jeder Spiegel hat zwölf Kästchen. Sie sind nach den
verschiedenen Himmelsstrichen geordnet, und jede enthält die kostbarsten Ge-
wänder und Edelsteine eines Landes oder einer Zeit. Sie sind alle Euer, und
hier sind die Schlüssel dazu. Liebt Ihr Edelsteine?

ARIANE:

Ja.

BLAUBART:

Welche wollt Ihr zuerst öffnen? Diese bergen die Schätze Indiens und diese
die Persiens. Hier ruhen die Reichthümer Egyptens und dort die Kleinodien
Israels. Hier die Geschmeide Griechenlands und dort die Juwelen Roms

ARIANE:

Verweilen wir bei den Schätzen Roms. Die Römerinnen waren schön und
muthig.

BLAUBART:

Hier ist der Schlüssel, der die grosse Lade öffnet, und die zwölf kleinen
Laden gehen mit ihr auf.

(Ariane nimmt den Schlüssel und dreht ihn im Schlosse um. Die Deckel der
grossen Lade und der zwölf kleinen Laden öffnen sich langsam. Ein blendender
Überfluss von Schleiern, Gürteln, Tuniken, seidenen Geweben, Gold- und Silber-
brocaten, welche die Schwere des Deckels niedergehalten hatte, quillt aus der grossen
Lade hervor, während Ringe, Halsgeschmeide, Armbänder, Gürtel, Perlen und kost-
bare Steine aus den zwölf kleinen Laden schwer herabtropfen und auf die Marmor-
fliesen fallen.)

ARIANE:

Oh!

(Sie wühlt mit den Händen gierig und freudig in der Flut von Stoffen und
Geschmeiden und wirft hastig einen schimmernden Schleier um ihre Schultern,
während sie sich in dem grossen Krystallspiegel selig betrachtet. Um die Hüften
schlingt sie einen breiten, mit Steinen besetzten Gürtel und legt ihr langes, schweres
Haar in ein Perlennetz Alles schweigt; nur allmählich erhebt sich wie aus dem

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 17, S. 396, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-03-02-17_n0396.html)