Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 18, S. 426

Über Favretto (Schaeffer, Emil)

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Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 18, S. 426

Text

SCHAEFFER: ÜBER FAVRETTO.

Favretto jedoch war nicht der Mann,
von herben Vergleichen sich traurig
stimmen zu lassen oder historischen Erinne-
rungen nachzugrübeln; denn nicht aus
Verzweiflung über die Gegenwart, nur als
Künstler flüchtete er zum Rococo, ins
Jahrhundert der Lichtmalerei, der leicht-
füssig tanzenden Farben, und dem Künstler,
der zu schauen wusste, mangelten solche
auch im Venedig von heute nicht. Bei
einer Operation hatte Favretto ein Auge
verloren, aber mit dem anderen, »das
ihm zum Sehen verblieb«, gewahrte er,
was die grossen Jahrhunderte der Kunst
nicht erblickt, gewahrte staunend die
tausend Schönheiten der kleinsten und ent-
legensten Winkelgässchen und ward so
zum Finder eines neuen Venedig, zum
Entdecker des Venedig der Armen und
Kleinen. Aber die Bilder des Proletarier-
sohnes erheben keine Anklagen gegen
die Grossen und Besitzenden, sind
wunderbar frei von aller Tendenz, sind
nur Sonnenhymnen, jauchzen nur zum
Licht, das über den grünen Canälen
flimmert, deren Wasser um die geheimnis-
volle Grazie der Gondeln, um morsche
Gondelpfähle flutet, sie besingen nur jene
kleinen Häuser mit den verwaschenen
Fensterläden; die Steine des alten Balkons
verwittern, schon bröckeln die Ziegel der
Mauer, aber noch immer leuchtet aus einer
Ecke das schöne Haupt einer hellenischen
Göttin nieder, die ein Schüler Tizians einstens
hier gemalt Unermüdlich schlendert
Favretto durch die engen Calli; mit dem
Jesuiten geht er zum Antiquar und blättert
in verschollenen Büchern; zur winterlichen
Dämmerstunde bleibt er vor einer Kirche
stehen, tritt mit ein paar armen Leuten
ein und macht eine prachtvolle Skizze
von den alten Weibern, die dort im Bet-
stuhl hocken und erloschenen Blickes ins
Leere starren Am liebsten jedoch —
wer mag’s ihm verdenken — weilt Favretto
bei den jungen Töchtern Venedigs, deren
bester Dichter er bis auf den heutigen Tag
auch geblieben. Er zuerst malte jene
Venetianerin, die keine Madonna sein will,
keine Göttin und keine Schäferin Arcadiens,
er zuerst malte die Venetianerin als Ve-
netianerin und liebte sie auch mit der
ganzen glühenden Zärtlichkeit des Ent-
deckers, feierte den grossen Glanz ihrer

Augen, schwärmte von dunklen Locken,
die sich struwwelig um runde Köpfe werfen
und bewunderte die naive Eleganz ihrer
Gesten. Gleich dem Cicisbeo des Rococo
ist Favretto stets um die Venetianerin,
schleicht ihr nach, wenn sie bei Regen-
wetter, das Kleid anmuthig geschürzt, unter
einem geflickten Schirm durch die Gassen
trippelt, aber der Schirm nimmt Schaden,
und Favretto begleitet seine Freundin
zum Schirmmacher, sitzt neben ihr am
»Mercato San Paolo«, wo sie Gemüse ver-
kauft, und der Schöpfer von »Le ventre
de Paris« müsste das Farben-Epos be-
schreiben, das Favretto hier aus grellen
Costümen, aus einem unsagbar weissen
Sonnenlicht und der bunten Fülle der
Kräuter gestaltet. Selbst ins Heim der
Venetianerin stahl Favretto sich als Erster,
spielt und tändelt dort mit den harm-
losen Kindern und hat in seinem Gemälde
»Nach dem Bade« trotz den grossen Alten
neue Melodien noch zum Preise der
wunderbaren Morbidezza dieser gertenhaft
biegsamen Mädchenkörper gefunden.

Favretto, allzufrüh begraben, hat gleich-
wohl als Maler beinahe die höchsten Gipfel
seiner Kunst erstiegen. Aus dem aka-
demischen Sumpfe rettete er sich schnell
auf den gesunden Boden treuester Wirk-
lichkeitsbeobachtung und von den Niede-
rungen der braunen Sauce-Malerei gelangte
er zu Höhen, wo helle Sonnen alle Dinge
in lebenspendendem Lichte baden. Immer
raffinierter, immer aristokratischer wird
seine Palette, immer leichter, immer
rascher im Tempo werden seine Bilder,
gleichen endlich einem Allegro con brio
Rossinis, alles löst sich in Duft, Grazie
und Bewegung, und gerade seine letzte
unvollendete Skizze »La festa del Reden-
tore« erweckt die schmerzliche Ahnung
der Herrlichkeiten, die sein Pinsel uns
vielleicht noch geschenkt hätte. Favretto
war Maler, Nur-Maler, und die Kunst der
Farben und Linien bedeutete ihm nach
Lionardos Worten »die Nachahmung aller
sichtbaren Werke der Natur«. In weisester
Beschränkung vermied er, Grenzen zu
überschreiten, die der Grösste gesteckt,
und allzu literarische, am Stofflichen haf-
tende Kritiker haben ihm darum die Tiefe
abgesprochen; und weil er, der Kranke
und Einäugige, nie den Schmerz geschildert

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 18, S. 426, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-03-02-18_n0426.html)