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Im Reiche der Literatur sieht es trüb-
selig aus. Habe ich dieses Frühjahr auch
nur Ein wahrhaft hinreissendes Buch in
die Hände bekommen, eines jener Bücher,
die uns von unseren Pflichten ablenken,
uns die Rendez-vous verpassen, die Liebe
verachten lassen? Ich kann mich nicht ent-
sinnen. Und wir haben doch den »Jardin
des Supplices«, fieberhaft aufgeregte, grau-
same Phantasien, haben »La Bombarde«,
ein Buch voll abenteuerlicher, kecker Verse,
ein neues »Lied der Gänse« (»Chanson
des gueux«), von einem ausschweifenden
und doch zugleich klugen Dichter gesungen.
Während Herr Mirbeau aus Neugier und
Gutmüthigkeit sich zum Henker gemacht,
hat Herr Richepin einige treulose Ab-
weichungen von der parnassischen Tradition
gewagt. In seinem Buche finden sich »freie
Reime«; ja, ein Gedicht von fünfhundert
»freien« und kauderwälschen Reimen!
Mehr Freiheit ist kaum möglich. Ich weiss
nicht, wie die symbolistischen Dichter
diesen neuen Bruder aufnehmen und ob sie
mit besonderem Vergnügen Verse wie die
folgenden lesen werden:
Aimi besognant sa besogne
Au nez des flics et au cul des cognes,
Nourrie et frusquée à la foire d’empogne,
Elle devint gironde, Jeanne — la — rogne.
A la girondasse, buvez, mes ivrognes!
Ob sie diese kräftige und bilderreiche
Poesie, die doch von der den Jüngern des
Herrn Vielé-Griffin vertrauten Sprache
so verschieden ist, recht verstehen werden?
Andere wieder werden finden, dass die
eine nicht unverständlicher ist als die an-
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dere, und dass es eine gewisse Grobheit
gibt, die nicht unangenehmer berührt, als
ein gewisser Muthwille. Herr Richepin
besitzt ein wunderbares Gefühl für popu-
lären Rhythmus; und das ist eine Gabe,
um die ihn so mancher junge Dichter,
der die musikalische Einfachheit allzusehr
verachtet, beneiden könnte. Mich hat die
Lecture der »Bombarde« sehr amüsiert,
sie wirkt wie ein Glas Branntwein nach
so vielen Gläsern sentimentalen Syrups.
Denn die Poesie wird immer syrupsüsser
und sentimentaler; die alte Romanze liess
die verblassten Bänder ihrer Haube auf-
frischen und wackelt mit dem Kopfe,
während heimtückische Jünglinge ihr die
runzeligen Hände küssen. Wir kehren
zu den einfältigen Zeiten des »Musen-
almanachs« oder zu den weinerlichen,
weniger alten, die der parnassischen Epoche
vorangiengen, zurück, zu der Herrschaft
»der falschen Elegie, des falschen Huma-
nismus, der schamlosen und schlechten
Poeten«. So sprach Catulle Mendès in
seiner »Legende du Parnasse contemporain«,
und fast alles, was er über den Zustand
der französischen Poesie von 1860 sagte,
ist auf die jüngste französische Poesie fin
de siècle anwendbar: »Von Kunst keine
Spur; von Sprache und Rhythmus keine
Ahnung. So finden sie doch, wenigstens
zuweilen, für wahre Zärtlichkeit, aufrichtige
Rührung und Leidenschaft lebendigen Aus-
druck? Niemals! Und kein Einziger unter
ihnen, der auch nur eine einzige jener
Eigenschaften besässe, denen sie — wie
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