Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 18, S. 428

Pariser Brief (Gourmont, Remy de)

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Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 18, S. 428

Text

GOURMONT: PARISER BRIEF.

sie sich rühmten — alle anderen aufge-
opfert.« Die einzige Leidenschaft einer
ganzen Dichtertruppe, heutzutage wie vor
vierzig Jahren, bildet der Hass, mit dem
sie den Stil verfolgen. »Man braucht nicht
gar zu gut zu schreiben,« sagte einer von
ihnen; das ist ihnen denn auch gelungen,
und vielleicht sogar besser, als sie be-
absichtigten. Es wäre höchste Zeit, dass
eine befugte Stimme diese auf Abwege
gerathenen Geister zur Vernunft brächte;
Talente, denen die Kraft mangelt, sich
selbst eine innere Regel zu dictieren,
bedürfen einer Leitung von aussen. Die
Anarchie ist, selbst in der Kunst, eine
Chimäre; man darf gegen menschliche
Schwäche nicht zuviel Grossmuth, zuviel
Erbarmen üben. Schrankenlose Freiheit ist
den meisten Menschen ebenso schädlich,
wie den Bohnengewächsen der Mangel an
Schutzpfählen. Zweifellos ist der schlechte
freie Reim noch verächtlicher als der
schlechte regelrechte Reim, über den Catulle
Mendès sich lustig macht. Innerhalb eines
Jahrzehntes ist der freie Vers zu einem
Grade von Infamie herabgesunken, den zu
erreichen der classische Vers zwei Jahr-
hunderte gebraucht hat. Der Mangel an
genauen Regeln hat die schwachen Talente
in Verwirrung gestürzt; es gibt wahrhaft
schändliche Productionen, und sie werden
gelobt und gepriesen.

Die Erfahrung hat also den Beweis
erbracht. Ob gegen den freien Vers oder
nur gegen die schlechten Dichter? Das
will ich hier nicht beantworten; dazu
brauchte ich zuviel Platz, und es liegt
mir daran, die Geduld der deutschen Leser,
für die speciell ich hier schreibe, nicht zu
missbrauchen. Ich bleibe stets ein Anhänger
eines gewissen freien Verses, eines Verses,
der in seinem Wesen eine richtige Aus-
sprache des heutigen Französisch anstrebt;
ein solcher Vers existiert jedoch kaum,
und ich halte Herrn Richepin nicht für
die geeignete Persönlichkeit, ihn wieder
zu Ehren zu bringen, er hat anderes zu
thun. Ich begnüge mich damit, den Poeten
von allzu leichtflüssigem Genie zu be-
denken zu geben, ob nicht jeder wahre
Dichter gleichzeitig auch Grammatiker sein
müsste. Und wenn sie lächeln sollten,
würde ich ihnen sofort Dante, Goethe,
Rousard, Malherbe, Victor Hugo citieren.

Das Genie ist nichts ohne das Handwerk;
in der Dichtkunst gibt es ebensogut ein
Handwerk, wie in der Sculptur. Und das
gilt, denke ich, für alle civilisierten Länder.

Ich bin nahe daran, für das beste der in
diesem Frühjahr erschienenen Bücher den
Essai über Thomas Carlyle von Edmond
Barthélemy zu erklären. Ein reiches
Leben und ein grosses Werk sind in diesen
Blättern in einem blühenden Stil und mit
sicherer Urtheilskraft zusammengefasst. Die
vertraute Bekanntschaft mit dem schroffen
Idealisten, dem Autor des »Sartor Re-
sartus
«, gereichte Herrn Barthélemy zum
Vortheil. Er hatte einen Kampf mit Taine
zu bestehen, der über Carlyle ein Bänd-
chen von jener prächtigen Bündigkeit
schrieb, die an Tintorettos köstliche Ver-
kürzungen gemahnt. Hier las ich auch zum
erstenmale diese unvergessliche »Philo-
sophie der Schweine
«, dieses niemals
alternde Pamphlet, das heute noch ebenso
richtig und neu erscheint, wie vor sechzig
Jahren. Die Übersetzung, die Herr Barthé-
lemy uns von diesem berühmten (wenn-
gleich noch nicht genügend bekannten)
Werk gegeben, ist vollständiger als die
von Taine gelieferte. In diesen vier Seiten
hat Carlyle an grausamem Humor sogar
Swift übertroffen; und mit welch betrü-
bender Genauigkeit prophezeien sie uns
eine Zukunft, der wir uns leider mit jedem
Tage mehr nähern! Doch schon sind die
beiden ersten Artikel der »Philosophie der
Schweine« das Résumé eines stark ver-
breiteten Katechismus, über den man kaum
mehr erröthet. Ich führe sie hier an, um
des Vergnügens willen, an dieser ver-
nichtenden Satire einen Antheil zu haben:

1. »Das Weltall, soweit eine gesunde
Conjectur es zu erfassen vermag, ist ein
immenser Schweinetrog, mit festen und
flüssigen Materien und anderen Contrasten
und Verschiedenheiten angefüllt; insbeson-
dere mit erreichbarem und unerreich-
barem Spülicht; dieses letztere in unend-
lich grösserer Quantität für die Mehrzahl
der Schweine.«

»2. Das moralische Übel ist: Die Un-
möglichkeit
, das Spülicht zu erlangen;
das moralische Gute: die Möglichkeit,
es zu erlangen.«

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 18, S. 428, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-03-02-18_n0428.html)