Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 18, S. 430

Pariser Brief Piero di Cosimo (Gourmont, Remy deHaberfeld, Hugo)

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Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 18, S. 430

Text

HABERFELD: PIERO DI COSIMO.

lächeln, wenn er die Bemühungen einer
kindischen Moral sieht, den Begriff der
Kraft aus dem Begriffe des Rechtes abzu-
leiten. Gibt es etwas Eitleres unter der
Sonne, als das Recht ohne die Kraft? Wie
vermag sich ein Geisteseinfall — weniger
als das: ein einfaches Lippengeräusch der
unerbittlichen Ursache als Hindernis ent-
gegenzustellen! Carlyle hat die Principien
des wahren wissenschaftlichen Lehrsatzes
festgestellt; man braucht diesen Lehrsatz
nur von den secundären Ideen, in die er

ihn gehüllt, loszuschälen, um endlich eine
annehmbare Philosophie zu erhalten, eine
Philosophie, die wohl erschrecken, doch
wenigstens nie lächerlich werden kann.

Herrn Barthélemys Werk ist eines
von jenen, die sich als Commentar be-
währen würden. Das liegt an dem umfang-
reichen und bedeutenden Gegenstand;
doch ist schon die Thatsache allein, dass
man einen umfangreichen und bedeutenden
Gegenstand zu wählen gewusst, ein Beweis
von intellectueller Kraft.*

* Aus dem Manuscript für die »Wiener Rundschau« übertragen von U. Fricke.


PIERO DI COSIMO.
Von HUGO HABERFELD (Breslau).

S’io strano, et strane fur le mie figure:
Diedi in taie stranezza et grazia et arte;
Et chi strana il disegno a parte a parte,
Dà moto, forza et spirto alle pitture.

(Grabschrift Piero di Cosimos.)

Für die Geschichte der Kunst ver-
gangener Jahrhunderte bieten die künst-
lerischen Strömungen der Gegenwart die
Richtung des Verständnisses und den
Standpunkt der Wertung. Die ganz
Grossen freilich stehen über den Schwan-
kungen des Tages. Wie Altäre, auf denen
niemals das geheiligte Feuer erlöschen
kann, ragen sie auf, und immer tragen
die Menschen ihr Glück und ihre Sehn-
sucht zu Leonardo und Dürer, zu Michel-
angelo und Tizian, zu Rembrandt und
Velasquez. Der Sturmwind einer neuen
Kunstanschauung aber, der junge Keime
mit sich führt, hebt auch den Sargdeckel
von den Grüften versunkener Schönheit,
und wer durch Dämmerungen in die Zu-
kunft schreitet, liebt es, an den Anfang
des Weges, blumenbekränzt, das Bild
jenes Meisters zu stellen, dem einst ähn-
liche Ziele leuchteten. Unser Jahrhundert
fühlte sich in seinem Ringen und seiner
Müdigkeit dem Quattrocento tief verwandt,
und so fanden hier die Deuter unseres
Lebens Vorbild und Helfer. Rossetti ent-
deckte das bleiche Königreich des Botti-
celli, Moreau die Pracht des Crivelli, die
glänzt, wie ein edelsteingeschmücktes Mess-
gewand, Puvia de Chavannes den innigen

Reichthum in der rührenden Unbeholfen-
heit der Trecentisten. Schwindt weckte
Cranachs Waldmärchen, Thoma die
deutsche Landschaft Altdorfers, und von
Stuck fiel manchmal ein Lichtstrahl auf
das dunkle Räthsel des Mathias Grüne-
wald. Es war die Kunst, die vorangieng,
und die Kunstgeschichte, die folgte. Nun
mehren sich die Zeichen, dass wir uns
einer Neo-Romantik nähern. Manches im
Werke Böcklins, vieles bei Ludwig von
Hofmann weist auf das Sehnen der Zeit.
Bald wird die Auferstehungsstunde Piero
di Cosimo, dem Romantiker des Quattro-
cento, schlagen. Darum möchte ich die
Tragödie dieses Übersehenen im Umriss
zeichnen. Denn, was früher den Zugang
zu seinem einsamen Garten schwer
machte, ist gefallen, und das eigene Er-
leben öffnet das Thor.

Das XV. Jahrhundert, das so frühling-
haft begonnen, zeigt an seinem Ende ein
seltsam geändertes Antlitz. Vorüber war
das wilde Mühen um die Ausdrucksmittel
der Kunst, vorüber das Tasten des Geistes,
das Gleiten der Seele in eine neue Welt.
All das, wonach die Väter gestrebt, war
zum Besitz geworden und fiel als reife
Frucht der Generation um 1480 in den

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 18, S. 430, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-03-02-18_n0430.html)