Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 18, S. 429

Pariser Brief (Gourmont, Remy de)

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Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 18, S. 429

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GOURMONT: PARISER BRIEF.

Diese Artikel zeigen die Pflicht der
Schweine, wie die der Menschen, die darin
besteht, die Quantität des »unerreichbaren
Spülichts« zu vermindern. Das versteht
sich von selbst. Und daraus entspringt
auch der Begriff einer durchaus logischen,
gesunden und das allgemeine Gedeihen
fördernden Poesie.

Einige Jahre ist es her, da ver-
öffentlichte man zwei Gravüren von
noch grausamerer Propaganda, als die
in Carlyles Pamphlet enthaltene, denn:
sie waren ernsthaft! Die eine war eine
Darstellung des gegenwärtigen socialen
Zustandes: ein unordentlicher Schweine-
trog, in dessen einer Ecke sich alles
Spülicht befindet, und zu dem sich einige
fette Schweine und eine ungeheure Herde
magerer Schweine in erbittertem Kampfe
wälzen. Die andere, eine Darstellung
des socialistischen Ideals: ein reinlicher
Schweinetrog, in dem das Spülicht mit
strenger Gerechtigkeit vertheilt ist, und
an dem eine Reihe rosiger Schweine lustig
und mit unruhig geringelten Schwänzchen
an Molken und gemahlener Gerste sich
delectiert. Man fühlt darin, wie Carlyle
sagte, »die Seligkeit der Schweine, deren
Trog sich in guter Ordnung befindet und
die genug haben, um sich den Bauch mit
Futter vollstopfen zu können«.

Herr Barthélemy nimmt, nachdem er
die »Philosophie der Schweine« citiert hat,
Gelegenheit, Swifts Humor mit Carlyles
Humor zu vergleichen; doch scheint er mir
Swifts edlen Charakter zu unterschätzen,
indem er ihn den Humoristen des Hasses
nennt. Bei dem ersteren, sagt Barthélemy,
fühlt man die Arroganz eines despotischen,
herrischen Geistes; seine Freude war: zu
zerstören, zu zerreissen; nach vollbrachter
Rache ruhte er aus, bereit, seinen Zer-
störungstrieb bei erstbester Gelegenheit an
gleichviel welchem Gegner wieder zu
bethätigen. Swift, der wenigstens den
Heroismus besass, stets und mit allem
Hochmuth seine Ansichten zu behaupten,
ward von den allgemeinen Ideen, dem
Räthsel der Welt, nicht berührt. Er war
kein Philosoph, er war ein Polemiker.
Dieser Gleichgiltigkeit gegen die grossen
menschlichen Probleme stellt Barthélemy
Carlyles feines moralisches Gefühl, seine
höheren Gesichtspunkte, das plötzliche

Aufrichten des Mannes gegenüber, der,
nachdem er mit sarkastischem Lächeln
das menschliche Elend beobachtet, das
Haupt erhebt und das Problem der Ver-
worfenheit zu lösen sucht. Swift verachtet,
Carlyle überlegt.

Es ist schwer, die Parallelen streng
durchzuführen, die Kluft zwischen Swift
und Carlyle ist vielleicht nicht so gross,
als Barthélemy annimmt. Beide erschreckte
die Bosheit und die Dummheit der Men-
schen; während jedoch Swift keine Rettung
für das Übel kennt, strebt Carlyle darnach,
der Menschheit, oder vielmehr jedem ein-
zelnen Menschen, das Bewusstsein des
ungeheuren Schatzes zu geben, der unter
dem doppelten Panzer dieser Bosheit und
dieser Dummheit verborgen liegt. Swift
ist so wenig gleichgiltig dem Übel gegen-
über, wie Carlyle; wenn er keinerlei
Lösung des Problems nennt, so geschieht
dies nicht aus Geringschätzung, sondern
aus Unwissenheit. Trotz seinem Stande
ist er nicht Theolog; er besitzt keinen
speculativen Geist. Seine Ideen sind viel
mehr politisch, als social; er gehört einer
Partei und einer Race an: er ist Irländer.
Swift ist der einzig mögliche Carlyle des
XVIII. Jahrhunderts; Carlyle ist die Fort-
setzung und Vollendung des Jonathan
Swift — und zugleich dessen Trübung.

Carlyle war ein grosser Geist, nur zu
fieberhaft und vielleicht nicht uneigennützig
genug und von presbyterianischen Vor-
urtheilen nicht genügend befreit. Er be-
trachtet den Menschen abwechselnd aus
zu grosser Nähe und aus zu grosser Höhe.
Er ist Theolog. Er ist gleichzeitig auch
Moralist, im höchsten Grade Moralist. Er
ist Apostel, Reformator und Priester. Er
ist endlich auch Prophet. Er glaubt: aller-
orten sieht er ein selbstbewusstes Gesetz;
seine Begriffe von der unerbittlichen Noth-
wendigkeit sind nicht grausam genug, denn
seine ganze Philosophie lässt er in dem
Begriffe der Pflicht enden. Seine schöne
Theorie von der Identität der Kraft und
des Rechtes, welche er von Hobbes ent-
lehnt, zerstört und verneint er, indem er
sie moralisiert. Und doch bleibt dies sein
grosser Gedanke und der einzig mögliche
Ausgangspunkt jeder ernsthaften socialen
Philosophie. Jeder moderne Mensch von
gesunden wissenschaftlichen Begriffen muss

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 18, S. 429, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-03-02-18_n0429.html)