Faksimile

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 18, S. 438

Text

DIE FRIEDENSCONFERENZ.
Von LEO GRAF TOLSTOI (Jasnaja-Poljana).

Die Friedensconferenz kann nichts
anderes sein, als eine jener heuchlerischen
Institutionen, deren Bestimmung es nicht
etwa ist, den Frieden zu verwirklichen
und die Heereslasten zu verkleinern, son-
dern einzig und allein, diese Lasten fort-
zuheucheln und die Augen der Menschen
vom einzig wirksamen Rettungsmittel ab-
zuwenden. Die Conferenz, sagt man, zielt
nicht auf Abrüstung, sondern auf Still-
stand der Rüstungen ab. Man setzt vor-
aus, dass die russische Regierung in dieser
Conferenz beschliessen werde, künftighin
Heeresvermehrungen zu unterlassen. Wenn
dies der Fall ist, so wirft sich die Frage
auf, was denn die Regierungen jener
Länder thun werden, die im Augenblicke,
da die Conferenz einig geworden, schwächer
sind, als ihre Nachbarn. Es ist wohl zu
bezweifeln, dass diese Staaten geneigt
sein werden, ihre relative Schwäche ein-
zugestehen. Gesetzt, sie vertrauen den
Beschlüssen der Conferenz und stimmen
ihnen zu, warum sollten sie dann nicht
auch eingestehen, noch schwächer zu
sein, als sie es wirklich sind, und
warum sollten sie dann nicht auf alle
Heeresausgaben Verzicht leisten? Wenn der
Zweck der Conferenz in dem chimärischen
Versuche besteht, die militärischen Kräfte
der Staaten auszugleichen und sie in
diesem Zustand der Gleichheit zu fixieren,
warum sollten dann die Regierungen bei
dem heutigen Bewaffnungszustand stehen
bleiben und nicht lieber einen — gerin-
geren Grad ihrer Stärke angeben? Warum
sollten beispielsweise Deutschland, Frank-
reich, Russland je eine Million Soldaten
haben, nicht aber 999.000, nicht 100.000,
nicht 90.000, nicht 300.000, nicht 1000
Soldaten? Wenn man vermindern kann,
warum nicht bis zum Minimum vermin-
dern? Und warum nicht gleich an die
Stelle der Armeen — Kämpfer wie David
und Goliath setzen und internationale
Streitfragen durch einen Einzelkampf ent-
scheiden?

Während der Belagerung von Sebasto-
pol machte ein Prinz S. S. Urusoff, ein
Officier, der wegen seiner Tapferkeit be-
kannt und zugleich einer der besten
Schachspieler war, den Vorschlag, man
möge — statt ein bestimmtes Bataillon
durch die Vertheidigung einer gewissen
Schanze decimieren zu lassen — den
Kampf um diese Schanze durch ein
Schachspiel austragen. Es ist leicht ein-
zusehen, dass es vorzuziehen gewesen
wäre, um diese Schanze Schach zu spielen,
als ihrethalben Menschen tödten zu lassen.
Aber Saken acceptierte den Vorschlag
Urusoffs nicht, denn er wusste wohl, dass
— selbst wenn seine Gegner im Schach-
spiel geschlagen worden wären —, den
englischen Commandanten nichts gehindert
hätte, die russischerseits entblösste Schanze
mit bajonettbewaffneten Bataillonen be-
setzen zu lassen.

So können auch die Mächte nicht in
eine Decimierung ihrer Heere einwilligen,
denn niemals wären sie vor irgend einem
neuen Napoleon oder einem neuen Bis-
marck sicher, der auf Verträge nicht
Rücksicht nehmen und und sich mit wilder
Gewalt all Dessen bemächtigen würde,
was er zu ergreifen imstande wäre. So-
lange es Armeen gibt, wird ihr Existenz-
grund in der Aufgabe bestehen, das durch
Gewalt Erworbene zu beschützen oder,
falls derlei nicht vorhanden sein sollte,
neue Erwerbungen zu machen. Denn nur
durch Siege kann man Erwerbungen
machen und seine Macht bewahren. Und
nur die grossen Bataillone sind immer
Sieger; ein Land, das eine Armee be-
sitzt, muss also die möglichst stärkste
besitzen. Das ist geradezu die Pflicht jeder
Regierung, ja ihre Existenzbedingung. Eine
Regierung kann gar viel in der Verwaltung
des Inneren thun; sie kann dem Volke
mehr Freiheit geben, es unterrichten,
seine Steuern erleichtern, Wege bauen,
Canäle anlegen, Einöden bevölkern, öffent-
liche Arbeiten durchführen u. s. w. Aber

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 18, S. 438, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-03-02-18_n0438.html)