Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 18, S. 435

Zur Kunst des Hintergrundes (Moeller-Bruck, Arthur)

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Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 18, S. 435

Text

ZUR KUNST DES HINTERGRUNDES.
Von ARTHUR MOELLER-BRUCK (Düsseldorf).

Es wird immer spürbarer: Jener ver-
schollene Mann, der vor nicht allzuvielen
Jahren, in noch kunsttodter Zeit, auf das
hohe Menschen- und Schöpferideal Rem-
brandt mit so selbstsicherer Eindringlich-
keit hinwies, hatte nahe an den unter-
irdischen Quellen des Werdens gesessen
und mit aufmerksamen Sinnen ihr ge-
heimnisvolles Murmeln belauscht. Sein
Buch drückte ja ganz gewiss nicht »die«
Culturveranlagung vom Jahrhundert-Ende
aus — aber der Geist, aus dem es ge-
boren war, wurde doch schon stark von
jenen Wellen getragen, in denen die
wachsende Entwicklungsseele unserer Ge-
genwart schwingt. Die Weltanschauung,
mit der der ungenannte »Deutsche« sein
Volk erziehen wollte, war dieselbe, zu der
sich das Geistes- und Sinnenleben dieser
Epoche inzwischen selbst erzogen hat;
oder doch, in seiner Grundtendenz, in-
stinctiv erziehen möchte. Wer das
Buch jetzt wieder liest, wird bestätigt
finden, dass es den Zeitgedanken von
heute vorweg genommen und — oft aller-
dings mitten zwischen journalistisch leicht-
fertigen oder sophistisch zusammengeklü-
gelten Bemerkungen — auch verhältnis-
mässig klar ausgedrückt hat.

Unsere Tage drängen in Leben und
Kunst dahin, auf einer einheitlichen und,
wenn man es recht versteht, nationalen
Basis die Unzahl der neuwertigen Linien
zu schliessen und die Kräfte, von denen
diese bewegt sind, in einem gemeinsamen
Punkte zusammenströmen zu lassen: zu
jener mystischen Synthese aller Gegen-
wartswerte, die den Dingen unseres Daseins
ihre so besondere Bedeutung zutheilt —
ihren so ganz eigentümlichen Sinn, der
diesen Dingen das Augenblickliche lässt
und zugleich das Ewige mit einer gewissen
unzweifelhaften Nuance begabt, an der allein
ein Stil unserer Cultur erkennbar werden
kann. Es ist allen Erscheinungen gewisser-
massen eine und dieselbe Tönung gegeben,

die das Product eines Processes ist, der
sich in seiner, gerade seiner Zusammen-
setzung in keiner vergangenen Zeit voll-
zogen hat: dadurch ist den Farben des
Daseins ein bis dahin noch nicht wahr-
genommenes Aussehen verliehen. Stärke,
Mischung mag so unendlich verschieden
sein, wie die Vielfältigkeit der Erschei-
nungen selbst! Aber der Grundton ver-
leugnet sich nirgendwo, ob er sich nun
in herrisch scharfen Linien um diese
Erscheinungen zieht, oder leicht darüber
liegt als weicher wehender Schleier.

Der Drang zu solcher Einheitlichkeit
ist noch nicht allzulange über uns ge-
kommen. Im Wesentlichen: seitdem der
Grössenwahn des europäischen Gehirnes
zerschäumt und das Land unserer ererbten
Rasseveranlagungen wieder in uns aufge-
taucht — seitdem unser Geist zu dem
Willen erstarkt ist, mit unseren über-
lieferten Empfindungen, von denen er sich
schon vermessen gelöst, wieder zusammen-
zuwachsen und so die neue harmonische
Gesammtbildung unseres Temperaments
zu veranlassen. Verstand und Gefühl
haben sich wieder versöhnt: das war
ihre beste Vernunft. Die Tradition — die
sich auf die Dauer, wenigstens solange
ein Volk noch vitale Energie besitzt, doch
nicht verleugnen lässt — ist wieder wach,
ja mächtig in uns geworden. Wir haben
erkannt, dass die stolze Fähigkeit der
Analyse nur die Begleiterscheinung eines
Auflösungs- und Zersetzungsvorganges
war, der uns eine Weile bedrohte. Aber
wir haben überwunden und dabei noch
gelernt, was es heisst, Sieger zu sein.
Dem Gegner in uns — der uns eine
Zeitlang engster Verbündeter geschienen
— nahmen wir seine Waffen, um sie nun
selbst zu einem ewigeren Zwecke zu
führen: So musste der Naturalist seine
Aussenanschauung lassen, die impressio-
nistische Gabe, das Detail der Dinge mit
absolutester Genauigkeit zu bestimmen. —

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 18, S. 435, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-03-02-18_n0435.html)