Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 20, S. 472

Ideen Eleonora (MultatuliPoe, Edgar Allan)

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Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 20, S. 472

Text

POE: ELEONORA.

Und die Wolke regnete in grossen Tropfen auf das Erdreich und liess die
Ströme schwellen, und Banjirs schwemmten die Herden hinweg.

Und er verwüstete mit Wasser das Feld.

Und er fiel nieder auf einen Fels, der nicht wich. Und er goss in grossen
Strömen, doch der Fels wich nicht.

Und er wurde zornig, dass der Fels nicht weichen wollte und die Stärke seiner
Ströme eitel war. Und zufrieden war er nicht.

Er rief: Diesem Felsen ist Macht gegeben über mich. Ich wünschte, ich wäre
dieser Fels.

Und es kam ein Engel aus dem Himmel, der sagte: Dir geschehe, wie Du
gesagt hast.

Und er wurde Fels und rührte sich nicht, so die Sonne schien, und nicht,
so es regnete.

Und da kam ein Mann mit Hacke und spitzigem Meissel und schwerem Hammer,
der hieb Steine aus dem Felsen.

Und der Fels sagte: Was ist dies, dass dieser Mann Macht hat über mich und
Steine haut aus meinem Schosse? Und zufrieden war er nicht.

Er rief: Ich bin schwächer als dieser ich wünschte, ich wäre dieser Mann.

Und es kam ein Engel aus dem Himmel, der sagte: Dir geschehe, wie Du
gesagt hast.

Und er war ein Steinhauer. Und er hieb Steine aus dem Felsen, mit schwerer
Arbeit, und arbeitete sehr schwer für wenig Lohn, und war zufrieden

Und Du, liebe Upi, was würdest Du erwählen, so ein Engel aus dem Himmel
käme, Dich zu fragen, was Du begehrtest?

Wahrlich, Herr, ich würde ihn bitten, dass er mich mitnähme nach dem
Himmel.

ELEONORA.
Von EDGAR ALLAN POE .*

Ich stamme aus einem Geschlechte, das
durch kraftvolle Phantasie und heisse Leiden-
schaftlichkeit ausgezeichnet ist. Die Men-
schen haben mich einen Wahnsinnigen ge-
nannt; aber es ist noch die Frage, ob der
Wahnsinn nicht die höchste Stufe der In-
telligenz bedeutet, ob nicht vieles Glorreiche,
alles Tiefe seinen Ursprung in einer
Krankhaftigkeit des Gedankens, in dem
besonderen Wesen eines Geistes hat, der
auf Kosten des allgemeinen Verstandes
aufs äusserste, und zwar einseitig, erregt
ist. Die Menschen, die am hellen Tage
träumen, lernen Dinge kennen, die Denen
entgehen müssen, die nur nachts träumen.
Durch den Nebel ihrer Visionen dringen
die ersten Lichtschimmer der Ewigkeit

zu ihnen, und halb erwachend fühlen sie
mit Schaudern, dass sie einen Augenblick
lang an das grosse Geheimnis gerührt
haben. Ruckweise erfassen sie Einiges von
der Weisheit, die gut, und Vieles von
der Erkenntnis, die böse ist. Sie dringen
ohne Ruder und Compass auf dem un-
geheuren Ocean des »unaussprechlichen
Lichtes« vor und wieder, wie in den
Abenteuern des nubischen Geographen,
»aggressi sunt mare tenebrarum, quid in
eo esset exploraturi«.

Bleiben wir also dabei: ich bin wahn-
sinnig. Dennoch erkenne ich deutlich zwei
unterscheidbare Zustände meiner geistigen
Existenz: den Zustand vollständig hellen,
nicht anzuzweifelnden Verstandes, der sich

* Anlässlich des 50. Todestages des Dichters.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 20, S. 472, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-03-02-20_n0472.html)