Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 20, S. 465
Text
VON ALGERNON CH. SWINBURNE
UMDICHTUNG
VON HEDWIG LACHMANN
I.
Ist Wachen oder Schlafen dies? Noch fleckt
Ein Purpurbrandmal, darin sich erschreckt
Das Blut aufbäumte und dann taumelnd wich,
Den Hals ihr, der mit Küssen dicht bedeckt.
Doch gleichwohl meine Lippen wie in Wuth
Noch fest sich saugen, während sie so ruht,
Gehn ihre Pulse friedlich — sicherlich —
Ein tiefer Schlaf durchwärmt ihr ganzes Blut.
Seht, das ist sie, um deren Gunst die Welt
Einst buhlte, deren Macht anheimgestellt
Die Lose waren, und um deren Fuss
Wirbelnd die Zeit zerstob, wie Spreu zerfällt.
Seht, so war sie, als noch ihr Leib beglückt
Die tausende, die nun, der Welt entrückt,
Am Kreuze knien, mit Lippen welk vom Kuss
Der blut’gen Füsse und vom Leid erdrückt.
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 20, S. 465, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-03-02-20_n0465.html)