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Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 20, S. 469

Text

IDEEN.*
Von MULTATULI. AN MEINE KINDER.

Ihr seid noch klein und werdet mich nun nicht begreifen, doch einmal wird
die Zeit kommen, da werdet ihr lesen, was ich hier sage. Nun denn, so ich mich
je gegen euch berufe auf meine Vaterschaft lachet mich aus!

So ich je euch Unterthänigkeit vorschreibe spottet meiner!

So ich je von euch Liebe forderte weil weil wie soll ich sagen?
Liebe, weil einmal etwas geschah, wobei ich nicht im geringsten dachte an euch;
Liebe, weil ich etwas verrichtete, bevor ihr bestandet; Liebe, weil

Ergänzet den Schluss, Kinder, ihr werdet es können, wenn ihr reif seid, zu
lesen, was euer Vater schrieb — ergänzet meine Worte

So ich je Liebe forderte darum bewerfet mich mit Koth!

Lachet mich aus, spottet meiner, bewerfet mich mit Koth, so ich je Unterthänig-
keit oder Liebe forderte darum!

Lebet der Meinung, dass jener Bibeltext in den »Geboten« verdorben ist von
Übersetzern. Ja, ja, so ist es. Glaubet mir, es stehet geschrieben: »Hasse
deinen Vater, dann wirst du lange leben
!« Erprobt es nur!

Ich möchte wohl einmal einen »Herrn« sehen, der so mächtig wäre, dass er
euch hindern könnte, eure Mutter lieb zu haben, und lebte er auch zehn lange
Leben aus, in zehn Ländern zugleich! Mit oder ohne Bibeltext, für oder gegen den
Bibeltext, mit oder ohne Gebot werden sie und ich eure Liebe zu verdienen wissen
durch Liebe. Wer das nicht kann, hat auf Liebe keinen Anspruch!

Eure »Unterthänigkeit« wird bestehen, solange und insoweit mein Geist mehr
entwickelt ist als der eure, weil ich ein paar Jahrzehnte früher begonnen habe. Die
Spanne Zeit werdet ihr bald eingeholt haben, vor allem, da ich, ach, so oft stehen
bleibe auf meinem Wege!

Kinder, ihr werdet mir nichts zu danken haben denn das, was ich für euch
that nach eurer Geburt, und selbst das nicht. Die Liebe findet ihren Lohn in
sich selbst.

Ach, wäret ihr schon so weit, dass ihr meine Werke lesen könntet und alles,
was ich bewahrt habe für euch allein. Ach, hörte ich es schon:

— Wir haben Dich lieb, Vater, doch Du hattest dazu nicht nöthig, unser
Vater zu sein!

BESCHRÄNKTER GESICHTSKREIS.

— Also erzähle uns nun einmal ohne Scherz, was ein »Specialist« ist!

— Ich scherze nicht. Und ich werde es auch nicht thun. Der Gegenstand ist
zu traurig dazu. Ein Specialist ist so Einer, der sein Lebenlang viele Dinge vernach-
lässigt hat, um den Preis der Mittelmässigkeit zu erringen in dem Wettlauf der
Ausüber eines bestimmten Fachs. Ein Specialist ist jemand, der, indem er sich blind

* Deutsch von Wilhelm Spohr.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 20, S. 469, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-03-02-20_n0469.html)