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auf die Erinnerung aller Ereignisse er-
streckt, welche die erste Epoche meines
Lebens bildeten — und den umdunkelten
Zustand voller Zweifel, in den meine Seele
jetzt versunken ist und der alle Erinnerungen
an Begebenheiten aus der zweiten grossen
Epoche meines Lebens betrifft. Glauben
Sie also alles, was ich Ihnen von der
ersten Periode erzähle, und von der zweiten
nur das, was Ihnen glaubwürdig erscheint.
Oder zweifeln Sie nur alles an; sollten Sie
dies aber nicht können, so spielen Sie
wenigstens den Ödipus vor dem Räthsel
der Sphinx meiner Seele.
Sie, die ich in meiner Jugend liebte
und der zum Andenken ich dies hier nieder-
schreibe, — sie war die einzige Tochter
der einzigen Schwester meiner langver-
storbenen Mutter und hiess Eleonora. Im
Thale des Vielfarbigen Grases, unter
tropischer Sonne, hatten wir immer zu-
sammen gewohnt. Niemals betrat ein
Fremder das Thal, denn es lag ver-
borgen zwischen einer Kette gigantischer
Berge, die von allen Seiten in seinen
Frieden hineinhiengen und seine köstlichen
Schlupfwinkel vor dem Sonnenbrand be-
schützten. Kein begangener oder gang-
barer Pfad führte hinein; um von aussen
in unser glückliches Heim zu gelangen,
hätte man das Geäst von vielen tausend
Waldbäumen durchbrechen und die Schön-
heit unzähliger, duftender Blumen dem
Tode weihen müssen. So lebten wir also
ganz allein und kannten nichts von der
Welt, die ausserhalb des Thales war —
ich, meine Cousine und ihre Mutter.
Aus den nebelhaften Regionen der
höchsten Bergspitzen, die unser Reich
so wohl verschlossen, wand sich ein
schmaler, tiefer Fluss hervor, der glän-
zender schien, als alles um uns her, — es
sei denn, man hätte in Eleonorens Augen
gesehen. Er schlängelte sich in zahl-
reichen Krümmungen durch das Thal und
entschlüpfte dann in eine finstere Berg-
schlucht, in Felsenspalten, die noch in
dichterem Nebel lagen als die, aus denen
er hervorgetreten. Wir nannten ihn den
»Fluss des Schweigens«, denn eine
grosse Beruhigung schien von seinen
Fluten auszugehen. Kein Murmeln stieg
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aus seinen Wellen hervor, er glitt so
sanft dahin, dass die perlgleichen Sand-
körner tief unten in seinem Schosse, die
wir so gern betrachteten, sich nicht be-
wegten, sondern in ruhevollem Glücke
an ihrem Platze liegen blieben und in
immerwährendem Glanze erstrahlten.
Das Ufer des Flusses und der vielen
schimmernden Bäche, die auf verschlun-
genen Wegen seinem Bette zuströmten,
der ganze Raum vom Ufer bis zum
Kieselsteingrunde in der klaren Tiefe, ja
die ganze Oberfläche des Thales, vom
Flusse bis an die Bergwände war mit
zartgrünem, dichtem, gleichmässigem Rasen
bedeckt, der vanillensüss duftete und mit
gelben Ranunkeln, weissen Gänseblümchen,
purpurnen Veilchen und rubinrothen
Asphodelen übersäet war, so dass seine
wunderbare Schönheit in unseren Herzen
laut die Liebe und Herrlichkeit Gottes
preisen liess. Und hie und da, Traum-
seltsamkeiten gleich, erhoben sich auf dem
Rasen phantastische Bäume, deren schlanke
Stämme nicht aufrecht standen, sondern
sich voll Anmuth dem Lichte zuwandten,
das zur Mittagszeit in die Mitte des Thales
fiel. Ihre ebenholzfarbene Rinde war silber-
gesprenkelt und weicher als alles, — es
sei denn, man hätte Eleonorens Wangen
gefühlt. Ohne die glänzenden, grünen,
riesigen Blätter, die in zitternden Linien
von ihrem Gipfel herabhiengen und mit
dem Zephyr spielten, hätte man sie für
ungeheure syrische Schlangen gehalten,
die der Sonne, ihrer Herrscherin, Huldi-
gungen darbrachten.
Eleonora und ich streiften fünfzehn
Jahre lang Hand in Hand in dem Thale
umher, ehe die Liebe in unsere Herzen
einzog. Eines Abends, gegen Ende des
dritten Lustrums ihres Lebens und im
vierten des meinigen, sassen wir innig
umschlungen unter den Schlangenbäumen
und betrachteten unser Bildnis, das der
»Fluss des Schweigens« widerspiegelte. Wir
sprachen an diesem köstlichen Abend kein
Wort, und auch am folgenden Morgen
war unsere Rede noch zitternd und
zögernd. Gott Eros war aus den Wellen
herausgestiegen zu uns, und nun fühlten
wir, dass er die feurige Seele unserer
Vorväter in uns entzündet hatte. Die
Leidenschaftlichkeit und die blühende
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