Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 20, S. 476

Eleonora (Poe, Edgar Allan)

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Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 20, S. 476

Text

POE: ELEONORA.

Bis hierher habe ich wahrheitsgetreu
erzählt. Aber da ich die Grenzlinie, die
der Tod meiner Geliebten auf meinem
Lebenspfade gezogen, überschreite und
zur zweiten Periode meines Daseins
komme, fühle ich, dass eine Wolke mein
Gehirn umschattet und dass ich selbst nicht
mehr an die vollständige Gesundheit
meines Gedächtnisses zu glauben vermag.
Doch will ich fortfahren. — — — Jahre
schleppten sich langsam vorüber, und ich
wohnte noch immer im Thale des Viel-
farbigen Grases. Aber eine zweite Ver-
änderung hat sich über alle Dinge ge-
breitet. Die sterngestalteten Blüten haben
sich in die Rinde der Bäume zurückge-
zogen und kamen niemals mehr hervor.
Die Tinten des grünen Teppichs verblassten,
die rubinrothen Asphodelen verwelkten,
eine nach der anderen, und an der Stelle
einer jeden erblühten je zehn dunkle Veil-
chen, die wie weinende Augen im Thau
erglänzten. Das Leben verschwand von
unseren Pfaden, denn niemals mehr brei-
tete der grosse Flamingo sein Scharlach-
gefieder vor uns aus, traurig zog er sich
aus dem Thale in die Berge zurück, und
all die munteren Vögel mit ihm. Die
Silber- und Goldfische flohen in die
Schlucht an der Grenze unseres Reiches
und schimmerten nie wieder durch die
schönen Wasser des Flusses. Und seine
zärtliche Musik, die süsser gewesen als
die der Aeolsharfe, als alles, bis auf
Eleonorens Stimme, erstarb nach und nach
in Murmeln, bis auch dieses ganz ver-
stummte, und der Fluss wieder in die
Feierlichkeit seines ursprünglichen Schwei-
gens gehüllt war. Endlich erhob sich auch
die grosse Wolke und übergab die Firsten
der Berge ihrer alten Finsternis. Sie glitt
in die Regionen des Hesperus zurück und
raubte dem Thale des Vielfarbigen Grases
seinen purpur-goldnen Glanz.

Doch Eleonora hatte ihre Versprechen
nicht vergessen. Ich hörte, wie Engel um
mich her Weihrauchschalen schwangen,
und fühlte Ströme heiligen Duftes das
Thal durchfluten; und in einsamen Stunden,
wenn mein Herz laut schlug, trugen die
Winde, die meine Stirne badeten, weiche
Seufzer zu mir her. Leises Flüstern er-
füllte oft nachts die Luft und ein-
mal — ach, nur einmal — erwachte ich

aus meinem Schlummer, der tief gewesen
wie ein Todesschlaf, weil zwei unirdische
Lippen die meinen berührt hatten
Aber dies alles konnte die Leere meines
Herzens nicht füllen. Es verlangte wieder
nach der Liebe, die es vorher so über-
reich erfüllt. Im Laufe der Zeit quälte
mich der Aufenthalt im Thale, in dem
mich alles an Eleonora erinnerte, und ich
vertauschte es für immer gegen die Eitel-
keiten und friedelosen Freuden der Welt.

Ich fand mich in einer fremden Stadt,
in der alle Dinge wie geschaffen waren,
mich die Träume, die ich so lange im
Thale des Vielfarbigen Grases geträumt,
vergessen zu machen. Der Pomp und das
üppige Wesen eines reichen Hofes, be-
rauschendes Waffengetön, die strahlende
Schönheit der Frauen, all dies blendete
mich und machte meinen Geist trunken.
Doch war meine Seele bis jetzt ihrem Ge-
lübde treu geblieben, und immer noch gab
Eleonora in den stillen Stunden der Nacht
mir Anzeichen ihrer Gegenwart. Plötzlich
hörten diese Zeichen auf, die Welt wurde
schwarz vor meinen Augen, und ich stand
erschrocken über die glühenden Gedanken,
die in mir erwachten, — über die Gewalt
der schrecklichen Versuchung, die mich
überfiel. Aus einem fernen, fernen unbe-
kannten Lande kam ein Mädchen an den
heiteren Hof des Königs, dem ich diente.
Ihrer Schönheit ergab sich mein abtrün-
niges Herz vom ersten Augenblicke an,
da ich sie sah Ohne Widerstand warf
ich mich vor dem Schemel ihrer Füsse
in einer heissen, abgöttischen Liebe nieder.
Was war meine Liebe zu dem jungen
Mädchen, das im Thale des Vielfarbigen
Grases begraben lag, im Vergleiche zu
der Glut, dem Übermass und Überschwang,
der ekstatisch wilden Anbetung, mit der ich
meine ganze Seele vor dieser Anderen
ausströmte! O herrlich, herrlich war
Ermengard! Der Gedanke an sie erfüllte
mich ganz Und wenn ich in die Tiefen
ihrer heissen, seltsamen Augen blickte,
war Eleonora vergessen.

Ich vermählte mich mit Ermengard
und fürchtete den Fluch nicht, den ich
auf mich herabrief.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 20, S. 476, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-03-02-20_n0476.html)