Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 23, S. 538
Text
O Taucher, der Du stets unter die Glocke gebannt bist,
in dieses Meer von ewig warmem Glas;
ein ganzes unbewegliches Leben beim Schlag der grünen Pendel.
Und die vielen fremden Wesen, die man durch die Wände sieht!
Aber jede Berührung mit ihnen ist mir für immer unmöglich —
und draussen im klaren Wasser herrscht so reges Leben.
Achtung! Der Schatten grosser Segel gleitet über die Dahlien der unterseeischen Wälder;
und ich bin für einige Zeit im Schatten der Wale, die gegen den Pol ziehn.
Jetzt stossen die Andern gewiss mit den schneebedeckten Schiffen vom Hafen ab,
denn es lag noch Schnee mitten in den Juliwiesen.
Sie schwimmen durch das grüne Wasser der Meerbucht;
sie treten zu Mittag in dunkle Grotten;
und die Brisen der offenen See ziehn über die Decke der Schiffe.
Achtung! Das sind die glühenden Zungen des Golfstroms;
begegnet ihren Küssen mit dem Schild der Zurückhaltung!
Man hat keinen Schnee mehr auf die Stirn der Fieberkranken gelegt;
die Kranken haben ein Freudenfeuer entzündet
und werfen mit vollen Händen grüne Lilien in die Flammen.
Lehnt Eure Stirn an die wenigst heissen Wände,
erwartet den Mond auf dem Gipfel der Glocke
und schliesst Eure Augen vor den Wäldern von blauen Asphodelen und violetten
Albuminen, bleibt taub den Lockungen des lauwarmen Wassers.
Trocknet Eurem ermüdeten Begehren den Schweiss;
geht zuerst zu Denen, die einer Ohnmacht nahe sind:
sie sind, wie wenn sie die Brautnacht in einem Keller feiern wollten;
sie sind, wie wenn sie zu Mittag in einen unterirdischen Gang träten, der mit
Lampen beleuchtet ist;
sie durchziehn, zum Festzug geordnet, eine Landschaft, die der Kindheit einer Waise
gleicht.
Geht dann zu Denen, die dem Tode nahe sind:
sie sind wie Jungfrauen, die von einem langen Spaziergang an einem heissen Sonnen=
fasttag zurückkehren;
sie sind bleich wie Kranke, die leise den Regen rauschen hören auf die Gärten des
Hospitals;
sie sind wie Überlebende, die auf dem Schlachtfeld frühstücken;
sie sind wie Gefangene, die bemerken, dass ihre Wächter sich im Flusse baden,
und die das Gras mähen hören im Garten des Gefängnisses.
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 23, S. 538, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-03-02-23_n0538.html)