Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 22, S. 534

Alexandrinismus Mascagnis »Iris« (Schlaf, JohannesTorchi, Ludwig)

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Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 22, S. 534

Text

TORCHI: MASCAGNIS »IRIS«.

Einzelnen eingreift, erliegen oder ob sie
sich ihm gewachsen zeigen, das bleibt
sich gleich; Niederlage wie Sieg, beides
wird von höchstem Interesse sein, und
selbst die Niederlage einer starken In-
dividualität wird noch zukunftswirkender
Sieg sein.

Eines aber möchte ich hier noch ein-
mal aussprechen, wie ich es gelegentlich
wohl schon ausgesprochen: Das Werk
und die Sprache Goethes wird bei alle-
dem nicht zum alten Eisen geworfen
werden können. Es ist nichts als Dünkel
und Grössenwahn, theoretische Verfahren-
heit, wenn man hier und da dichterische

Formen gefunden zu haben meint, die
ein tiefer Abgrund von der Sprache
Goethes trenne. Denn, gesetzt selbst den
Fall, dass Goethes Sonder-Individualität
im Laufe des kommenden Jahrhunderts
von einer gleichwertigen ersetzt oder in
mancher Hinsicht an Modernität über-
flügelt werden könnte — wir wollen es
hoffen! —, diese neue Individualität wird
sicher mit ihm und seiner Sprache in
einem intimen organischen Zusammenhange
stehen, denn er ist und bleibt der erste
rein und harmonisch ausgebildete Geist
der deutschen Moderne.

MASCAGNIS »IRIS«.*
Von LUDWIG TORCHI (Bologna).

Wer heutzutage die italienischen Opern
der jungen Schule einer Betrachtung unter-
zieht, wird sehr bald einsehen, wie mittel-
mässig die Ideale sind, von denen sie sich
ruhmvoll nährt. Vielleicht hat man das
bei Ihnen in Wien schon eingesehen. Die
italienischen Theatercomponisten wollen
mit der Mode gehen und für den Tag
schreiben. Dieses Bestreben kam vor allem
von Mascagni. Man begriff es als Reaction
und zollte seiner »Cavalleria Rusticana«
Beifall. Das genügte. Er aber war davon
nicht überzeugt und componierte angesichts
allgemeiner Gleichgiltigkeit immer weiter
auf einer stereotypen Linie. Wie er, ja
noch mehr als er, blieben seine Nachahmer
erfolglos. Sie hatten kein Talent. Und
nun kommt Herr Mascagni wieder, um
uns in seiner Oper »Iris« neuerdings zu
sagen, dass er auch weiterhin ein Mode-
componist, ein Sensations-Opernschreiber
sein und für den Tag schaffen werde. So
der Meister! Und auch die anderen werden
binnen kurzem folgen, sein Spiel wieder-
holen und, gleich ihm, verlieren.

»Iris« fand in Rom und Neapel einen
bemerkenswerten Klatscherfolg; in Mailand
wurde die Oper viel umstritten und gefiel

in der Majorität nicht. Dies der That-
bestand. Die dünne, abstossende Fabel des
Stückes mit ihren Naivitäten, ihren bizarren
Verzauberungen, dem Theater im Theater
und ihren choreographischen Effecten, ist
ein Machwerk, das durch den Aufwand an
Bühnenkunst nur noch unerträglicher wird.
Aber heutzutage lässt sich ein Publicum,
das jedweden ästhetischen Sinn verloren
hat, mit derlei Romantik gern abspeisen.
Die Handlungen und Wirkungen der Ver-
derbtheit und Brutalität zu zeigen, ist nach
der Ansicht mancher möglicherweise noch
im Rahmen des Theaters gelegen. Kyoto
und Osaka verkörpern in der That die
schamloseste Schlechtigkeit; der Eine mit
der Unverfrorenheit des berufsmässigen
Zuhälters, der Andere unter der Maske
einer erdichteten Leidenschaft, die auf den
Sieg der Wohllust abzielt.

Iris ist ein unschuldiges, empfäng-
liches, kindliches Wesen. Alle haben
sie verstanden, niemand hat sie aufge-
klärt. Sie ist begehrlich und unwissend
bis in ihren Tod, der das falsche Bewusst-
sein eines nie begangenen Fehltrittes ist.
In dieser seltsamen Umgebung verliert
auch die Figur des Blinden, ihres Vaters,

* Vor einigen Tagen gieng die Oper in Frankfurt am Main in Scene. D. R.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 22, S. 534, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-03-02-22_n0534.html)