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Was ist es, das die Menschheit in
beständiger Unruhe erhält, als das be-
ständige, innerliche, wenn auch unbewusste
Streben nach etwas Höherem, ja nach dem
Höchsten, nennen wir es Erkenntnis, Licht,
Vollkommenheit, Gott, und das sich
überall nur deshalb als ein Streben nach
dem Vergänglichen äussert, weil der
Mensch das Wahre, Ewige und Unver-
gängliche noch nicht kennt? Dieses Streben
hindert ihn, zur Ruhe zu kommen, und
doch wäre er ohne dasselbe nicht viel
mehr als ein Thier, und noch übler daran
als dieses, weil das Thier im Sinnlichen
seine Befriedigung findet, das Sinnliche
aber den Menschen nicht auf die Dauer
befriedigen kann. Zu allen Zeiten haben
die Menschen nach der Gottheit gesucht,
aber sie suchten sie in äusserlichen Orten,
in Tempeln aus Stein oder über den
Wolken, und das Göttliche blieb ihnen
fern, weil sie sich von ihm trennten
und es deshalb nicht in ihnen selbst
offenbar werden konnte. Sie warteten
darauf, dass Gott zu ihnen komme oder
zu ihnen gebracht werde; aber Gott
kommt weder, noch geht er; er ist
allgegenwärtig; er ändert seinen Wohnort
nicht; er kommt uns nicht näher, er
offenbart sich nur; wir aber kommen ihm
dadurch näher, dass wir ihn in seiner
Offenbarung erkennen, und er kann in
unseren Herzen nur dann offenbar werden,
wenn dort die leidenschaftslose Ruhe
herrscht.
Das grösste aller Räthsel ist noch
immer der Mensch. »Niemand kann zum
Vater kommen, als durch den Sohn.«
Nur durch die Menschheit kann der Mensch
die Gottheit erkennen. Nur in Dem-
jenigen, welcher der Thierheit und Thor-
heit entwachsen und in Wahrheit ein
edler Mensch geworden ist, kann die
göttliche Natur zum Vorschein kommen.
Gott ist das Eine untheilbare Wesen von
Allem; es existiert — wie die Weisen
lehren — nichts ausser ihm. Die ganze
Welt ist nur eine Offenbarung des schöpfe-
rischen Gottesgedankens und ohne Gott,
ohne Wesenheit ein wesenloser Schein.
Die Religion lehrt, dass vor undenk-
lichen Zeiten wir Alle in Gott und mit
ihm vereinigt waren; aber wir blickten
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hinab in das Dunkel des materiellen
Daseins, und da sah die Seele ihr eigenes
Spiegelbild. Gleich Narcissus, der sein
Bild im Wasserspiegel erblickt, wurde sie
von dem Anblick ihrer eigenen Schönheit
gefangen. Sie wollte sich von der Einheit
trennen und selber Gott sein. Aber trotz
seines Herabsteigens in die Materie konnte
sich der Mensch nicht gänzlich von seinem
göttlichen Ursprunge trennen; er ist stets
noch durch einen göttlichen Lichtstrahl
mit seinem göttlichen Wesen verbunden,
sein Körper ist auf der Erde, sein Geist
ruht im Licht und seine Erlösung besteht
darin, dass er dieses göttliche Licht er-
kennt und durch diese Erkenntnis die
Täuschung seiner Getrenntheit von dem
Alleinigen überwindet und so wieder zu
seinem göttlichen Dasein zurückkehrt. Dies
ist es, was alle Religionssysteme, wenn
auch in verschiedener Weise, lehren; denn
das Wort »Religion« selbst, das aus dem
lateinischen »religere« stammt, bedeutet
das »Zurückbinden« der Seele zu ihrem
Ursprung.
Millionen von Jahren aber mögen
dazu nöthig sein, ehe die Menschheit auf
dem Wege der Erfahrungen und ge-
täuschten Erwartungen zu dieser Erkenntnis
kommt; denn der menschliche Verstand
kann das Unendliche nicht begreifen, wenn
auch die Seele es empfindet; keine wissen-
schaftliche Forschung oder logische Argu-
mentation kann eine göttliche Erleuchtung
schaffen, wo kein göttliches Licht vor-
handen ist. Alles, was Belehrung und
Unterricht thun können, ist, dass sie uns
den Weg zur Erlösung zeigen, doch die
Erlösung selbst kann nur das erlösende
Princip, der Erlöser selber besorgen.
Wenn es aber den menschlichen Be-
strebungen auch in Jahrtausenden un-
möglich ist, die Dunkelheit zu zerstreuen,
so genügt doch ein Augenblick des Auf-
leuchtens des göttlichen Lichtes dazu.
Somit wollen wir hoffen, dass in der sich
nun entwickelnden neuen Weltordnung
die Bedingungen sich günstiger gestalten
als bisher, so dass der Gottesfunke im
Herzen der Menschen zur Flamme werde,
in welcher alle Leidenschaften verschwin-
den, und in deren Licht der Mensch
seine Alles umfassende Gottheit erkennt.
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