Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 24, S. 565

Wie Tolstoi lebtund arbeitet (Ephron, Heinrich)

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Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 24, S. 565

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EPHRON: WIE TOLSTOI LEBT UND ARBEITET .

Besucher etc. gedenkt. Manche Seiten
des Buches liest man mit intensivem In-
teresse, andere mit Erregung und alle —
mit dem Gefühl tiefster Verehrung und Be-
wunderung für den Einsiedler von Jassnaja-
Poljana.

Wie Tolstois »Krieg und Frieden«
entstand, mag aus Folgendem ersehen
werden: Ursprünglich fasste Tolstoi den
Plan, über die »Dekabristen« zu schreiben,
über die Helden des Aufstandes im Jahre
1825 gegen den damaligen Kaiser Niko-
laus I. Durch fünf Jahre sammelte der
Dichter das Material zu diesem Werke,
aber die Ereignisse des Jahres 1812 und
der vaterländische Krieg Russlands gegen
Napoleon fesselten sein Interesse derart, dass
der Roman »Krieg und Frieden« entstand,
der eigentlich nur als eine Einleitung zu
den »Dekabristen« gelten sollte. Den Plan,
den eigentlichen Roman »Die Dekabristen«
zu schreiben, gab dann Tolstoi aus
politischen Rücksichten auf, und das ge-
sammte Material zu diesem beabsichtigten
Werke befindet sich heute im Rumiantzew-
Museum zu Moskau.

Fast alle Werke Tolstois verdanken
ihre Entstehung einem selbsterlebten Fall
aus dem wirklichen Leben oder einer Er-
zählung, die ihm mündlich überliefert
worden und einen besonderen Eindruck
auf den Dichter geübt. So entstand auch
der Roman »Anna Karenina«, dessen
Inhalt sich fast vollständig in einer Fa-
milien-Tragödie nächst Jassnaja-Poljana ab-
gespielt. »Der Tod des Iwan Sergeje-
witsch
« wurde unter dem Eindrucke eines
Berichtes geschrieben, den ihm ein Moskauer
Freund über den Tod eines Collegen hinter-
brachte.

Besonders interessant ist die Entstehung
der »Kreutzer-Sonate«. Auf dem
Gute Tolstois weilten einst zu gleicher Zeit
der berühmteste Maler Russlands, Rjepin,
der bedeutende Komiker Andrejew-Burlak
und eine Dame aus dem Auslande. Eines
Abends spielte diese Dame Beethovens
»Kreutzer-Sonate« mit solchem Tempe-
rament und solch künstlerischer Vollendung
vor, dass die ganze Gesellschaft, Tolstoi
inbegriffen, aufs tiefste erschüttert war. Unter
diesem Eindrucke sagte Tolstoi dem Maler
Rjepin: »Schaffen wir auch eine »Kreutzer-
Sonate«, — Sie, Rjepin, mit dem Pinsel,

ich mit der Feder; Andrejew-Burlak wird es
lesen — und Ihr Bild wird dabei aufgestellt
sein«. Diese Anregung wurde mit Be-
geisterung aufgenommen — und so ent-
stand Tolstois grossartiges Werk.

Der Inhalt des Dramas »Die Macht
der Finsternis
« ist in seinem ganzen
Umfange einer Gerichtsverhandlung in Tula
entnommen. »Die Früchte der Auf-
klärung
« sind anlässlich einer Liebhaber-
Theater-Vorstellung entstanden.

Über Tolstois Lieblings-Dichter erzählt
Sergejenko Folgendes: Für Shakespeare
hat Tolstoi wenig Enthusiasmus; Goethe
citiert er gerne; liebt ganz besonders
Heine, den er »den grossen Mann in
seidenem Rock« nennt; von Schillers
Dramen gefallen ihm »Die Räuber« am
besten. Namentlich verehrt er auch
Pasqual, J. J. Rousseau, Victor
Hugo. Von den zeitgenössischen russi-
schen Dichtern hatte der geniale Lermon-
tow
den grössten Einfluss auf ihn. Von
Turgenjew spricht er stets mit Achtung
und nennt ihn einen aufrichtigen Fort-
schrittler; von Turgenjews Werken ge-
fallen ihm jedoch nur die »Tagebücher
eines Jägers«, deren Naturschilderungen
er für unerreichbar hält. In Dosto-
jewsky
schätzt er einen grossen Künstler
und bezeichnet seinen Roman »Raskol-
nikow« für ein Meisterwerk ersten Ranges.

»Wenn man den Einfluss unserer
Dichter auf unsere Gesellschaft percentuell
ausdrücken wollte, so würde man beiläufig
folgende Tabelle erhalten: Puschkin 30%,
Gogol 15%, Turgenjew 10%,
Alexander Herzen 18%«. So äusserte
sich einmal Tolstoi über die Ingerenz
der russischen Dichter auf die russische
Gesellschaft.

In einem Gespräche über die »Kreutzer-
Sonate« sagte einmal Tolstoi zu Serge-
jenko über die philosophisch-moralische
Seite dieser berühmten Erzählung Folgen-
des:

»Wer von uns sündigen Menschen
kann und darf an die Frau, an das Weib
Forderungen stellen und sie verurtheilen,
wo wir doch selbst das Weib zu jeder
Unwahrheit vorbereiten? Schätzen wir
denn nicht beim Weibe gerade Dasjenige
am höchsten, was zu ihrem Geschlechte
gehört, und nehmen wir es nicht gerade

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 24, S. 565, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-03-02-24_n0565.html)