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Angesichts der hohen Verehrung, die
der grosse russische Dichter in seinem
Vaterlande und in der ganzen gebildeten
Welt geniesst, ist das kürzlich erschienene
Buch von P. Sergejenko: »Wie Tolstoi
lebt und arbeitet« eine willkommene Gabe
für jeden Freund der russischen Literatur
im allgemeinen, des Einsiedlers von
Jassnaja-Poljana im besonderen. Das Buch
schildert uns das alltägliche Leben des
greisen Dichters, der trotz seines hohen
Alters noch mit wunderbarer Energie
und Ausdauer weiterschafft — sich selbst
zur Befriedigung, den Anderen zur Er-
bauung. Und ganz besonders ist es
der starke Wille dieses Menschen, der
unsere Bewunderung erzwingt. Der Autor
des in Rede stehenden Buches erzählt
uns eine ganze Reihe von Scenen und
Episoden, deren Augenzeuge er zum Theile
selbst war und die er im übrigen aus Be-
richten der intimsten Mitglieder des
Tolstoi’schen Familienkreises kennt; Er-
innerungen aus der Vergangenheit des
Dichters, aus seinem gegenwärtigen Fa-
milienleben; charakteristische Züge, psycho-
logische Beobachtungen über das innere
Wesen Tolstois, über das Milieu, in dem
er heute lebt und unablässig an seiner
eigenen Vervollkommnung arbeitet. Das
Buch von Sergejenko macht keinen An-
spruch, als erschöpfende Charakteristik
des Menschen und Dichters zu gelten;
es will vielmehr nur Das sein, was es
in der That ist: gelegentlich gesammeltes
Material, das zur vollen Charakteristik
Tolstois in interessanter Weise gar
manches beitragen kann. Es ist gewisser-
massen eine Sammlung von Moment-Auf-
nahmen, die ein grelles Licht auf die Per-
sönlichkeitTolstois werfen. Gleich im Anfange
erzählt uns Sergejenko folgende Episode:
»Das leidenschaftliche, feurige Tempe-
rament, das Tolstoi in seiner Jugend besass,
ist bis auf den heutigen Tag nicht
im geringsten gedämpft. Vor kurzem ritt
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er ein junges Pferd. Das Thier wird plötzlich
bockbeinig und will nicht vom Fleck. Tolstoi
ist ein gewandter Reiter und liebt die Pferde
mit zärtlicher Liebe; er kennt ihre Ge-
wohnheiten, und manchmal scheint es, dass
er ihre Sprache versteht. Doch diesmal
hilft kein Mittel; das Pferd bäumt sich
auf und gibt nicht nach. Plötzlich reckt
Tolstoi seinen Körper in die Höhe, seine
Augen funkeln, und sausend fällt die Reit-
gerte auf die Flanken des Thieres. Das
Pferd gibt nach. Und eine Minute später
hätte niemand vermuthet, dass dieser ein-
fach gekleidete, bescheidene Greis mit dem
langen, silberweissen Barte so zornig, so
gewaltsam sein könne. Doch darf man
mit Bestimmtheit sagen, dass dieser Vorfall
nicht spurlos für Tolstoi geblieben; denn
bei seinem heissen Temperament, seinem
kriegerischen, hartnäckigen Charakter hat
dieser Greis ein weiches, empfindsames
Herz, das bei jeder Gewaltthätigkeit schmerz-
lich zusammenzuckt. In dieser Verkettung
herrschsüchtiger Instincte und zartester
Empfindung liegt die ganze Tragik seiner
Persönlichkeit. Von der Natur mit einem
starken Willen und einem im höchsten
Grade leidenschaftlichen Temperament be-
gabt, erscheint uns Tolstoi als einer jener
Übermenschen, von denen Nietzsche ge-
träumt. Gleichzeitig strebt seine Seele nach
Läuterung und Vervollkommnung. Einerseits
ein ungestümer Drang, die Menschen zu
beherrschen, andererseits das unablässige
Streben nach innerer Reinheit, die oft an
evangelische Demuth grenzt«.
Dies die Charakteristik Tolstoi’schen
Wesens, die uns Sergejenko gibt. Und
diesem tragischen Zwiespalt in Tolstois
Charakter begegnen wir fast in jeder Episode,
die wir in dem Buche finden; sei es dort,
wo der Verfasser von den Familienver-
hältnissen Tolstois spricht, oder wo er
seiner Liebe zur Musik, seines Verhältnisses
zum Theater, seines Einflusses auf Menschen,
seiner Lieblings-Autoren, seiner zahlreichen
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